Kapitel 76

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Ich war so dumm gewesen. So schrecklich, schrecklich dumm. Und jetzt hatte ich dafür zu bezahlen.
Er hatte es gesehen, er wusste es. Oh mein Gott, er wusste es!

Vor Panik drehte sich mein Magen einmal um und ich verkrampfte meine Hand in den Stoff meines Kleides, um mich davon abzuhalten, mich nicht einfach in das nächste Gebüsch zu übergeben.
Ich musste so schnell ich konnte von hier weg, bevor Dyan mir folgte... wenn er mich denn überhaupt noch ansehen konnte.
Gott, ich bezweifelte ja selbst, je wieder in den Spiegel sehen zu können!

Er wusste es.

Ich versuchte meine Schritte noch weiter zu beschleunigen aber diese verdammten hohen Schuhe brachten mich immer wieder zum Straucheln und mit einem gebrochenem Knöchel würde ich nur noch langsamer voran kommen.
Wieso musste ich aber auch unbedingt bei Vater und Kathrin mitfahren?
Mit meinem Auto wäre ich schon längst weg von hier.

Vielleicht... vielleicht würde sich Dyan ja einreden, sich nur versehen zu haben. Irgendeine komische Lichtreflexion o-oder der Abdruck einer Stuhllehne?! Irgendetwas logisches würde sich sein Hirn doch ausdenken können!
Immerhin ging er doch davon aus, dass mein Leben perfekt war. Dass ich perfekt war und nichts ein Schatten auf mich werfen könnte.

Wie schon vorhin bei seiner kleinen Ansprache fuhr mir ein bitterer Stich in die Brust.
Als ich seinen Vater gesehen hatte, wie er vollkommen außer sich war und um sich schlug, wie ein zu lange festgehaltenes Tier, hatte ich... ja hatte ich wirklich die Hoffnung gehegt, dass Dyan es verstand. Nachempfinden konnte, was es bedeutete in einer Familie aufzuwachsen, die innerlich zerbrochen war, doch jeden nach außen hin blendete.
Ich hatte gedacht einen Seelengefährten gefunden zu haben. Jemanden der ohne ein Wort spüren konnte, wie schlecht es mir ging. Jemanden der auf einer tieferen Ebene mit mir verbunden war.

Unter meinen unterdrückten Tränen hörte sich das verbitterte Schnauben eher wie ein Schluchzen an.

Was für ein dämlicher Gedanke. Als gäbe es so etwas wie Telepathie.
Niemand verstand einen auf diese Weise.

Oder zumindest Dyan mich nicht. So weit von ihm entfernt, wie auf der Straße vor seinem Haus, hatte ich mich seit zwei Wochen nicht mehr gefühlt. Er hatte mich dort nicht gewollt. Er hatte mich in diesem Moment nicht einmal mehr in der Nähe seines Lebens gewollt.

... und ich verstand es. Ich hatte etwas von ihm gesehen, etwas von seiner Familie, dass niemals jemand sehen sollte.

Genauso wie er nun auch von mir.
Und ich würde Dyan am liebsten nie wieder begegnen.

Mein Absatz blieb in einem Loch im Asphalt hängen und ich knickte heftig zur Seite.
Mit einem kleinen Schmerzensschrei fiel ich vorne über und klammerte mich an dem pochenden Knöchel fest, als könne ich damit verhindern, dass sich der Schmerz ausbreitete.
Dabei rollte mir die erste heiße Träne über die Wange und ich kniff schnell die Augen zusammen, um weitere zurückzuhalten.

Verdammt, ich war so ungeschickt! Verdammt! Verdammt! VERDAMMT!

Ein heißerer Aufschrei entfuhr meiner Kehle und ich ließ mich ohne Rücksicht auf mein weißes Kleid zur Seite auf den Po plumpsen.
Wie hatte ich nur denken können, meine Haare würden genug Schutz bieten?! Wie hatte ich nur so beansprucht von Dyan sein können, dass ich VERGESSEN hatte, was ich zu verbergen hatte?!
Denn genau das war passiert. Als ich ihm den Rücken zugekehrt hatte, hatte ich nicht eine Sekunde an die Striemen gedacht.
Meine ganze Konzentration war darauf gerichtet gewesen, meine Wunde zu lecken, die mir Dyan mit seiner Ablehnung verpasst hatte. Er hatte solch einen Einfluss, so eine KONTROLLE über mich und meine Gefühlswelt!
Mir hätte das Risiko viel früher bewusst werden müssen. Mir hätte auffallen müssen, wie unvorsichtig ich geworden war.
Aber dafür war ich viel zu berauscht davon gewesen. Davon, wieder dazuzugehören. Davon, wie Dyan aussah, wie er sich bewegte, verhielt und wie er MICH ansah.

behind the screenWhere stories live. Discover now