Zusatzkapitel 2

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Weitere zwei Wochen waren vergangen, doch das "Ich liebe dich" war mir noch immer nicht über die Lippen gekommen.
Dabei hatte es wirklich viele Situationen gegeben, in denen ich kurz davor gewesen war. Wirklich! Eigentlich jedes Mal wenn Dyan oberkörperfrei vor mir gestanden hatte.
Oh man ich wurde so schwach wenn es um seine Bauchmuskeln ging... aber noch viel schlimmer waren diese breiten Schultern und seine Arme... seufz.
Aber zugegebenermaßen, und auch damit man nicht denkt ich wäre völlig körperfixiert, am Todestag meiner Mutter war die Versuchung am größten gewesen.
Ich hatte am Abend zuvor kein Auge zu bekommen. Gefangen in meinen Erinnerungen hatte ich wach im Bett gelegen und es nicht gewagt mich zu bewegen, um Dyan ja nicht aufzuwecken. Tatsächlich hatte ich mich in dieser Nacht das erste Mal, seitdem ich bei den Lawyers eingezogen war, wieder einsam gefühlt. Aber ich denke mal diesen Effekt hatte der Todestag der Mutter nun mal auf einen.
Außerdem kannte ich das Gefühl noch zur Genüge aus dem zurückliegenden Höllenjahr.
Problematisch wurde es erst als die vielen kleinen und größere Schnitte auf meinem Körper zu brennen begannen, als hätte man sie wieder aufgerissen und mich in eine Wanne Desinfektionsmittel gesetzt. Das kam manchmal vor. Meistens wenn meine Gedanken zu all den Ereignissen zurückglitten. Als würde mein Körper auf die schmerzhaften Erinnerungen reagieren.
Für gewöhnlich versuchte ich mich in solchen Momenten abzulenken, aber schon mal versucht dich um drei Uhr nachts abzulenken, wenn du dich nicht mal bewegen durftest?
Schlicht und ergreifend unmöglich.
Deswegen waren die Schmerzen immer schlimmer geworden, während sich die Schatten im Raum zu meinen Albträumen zu manifestieren schienen. In der einen Ecke lauerte der Tag der Beerdigung meiner Mutter. Hinter dem Sofa Kathrins Einzug. Und unter dem Bett der Tag, an dem mich mein Vater das erste Mal schlug.
Mit jeder Sekunde die ich weiter still daliegen musste, gefangen als hätte Dad noch immer alle Gewalt über mich, hatte sich meine Kehle ein Stück weiter zugeschnürt, bis ich mich fühlte, als müsste ich ersticken.
Keine Ahnung wie lange ich es noch geschafft hatte, mich zu beherrschen, mich selbst zu knechten, aber irgendwann musste ich japsend nach Luft schnappen, sonst wäre ich an dem festen Knoten in meiner Brust gestorben.
Der Laut hatte Dyan dazu veranlasst sich im Halbschlaf sofort grummelnd zu mir zu drehen. "Tess?"
Seine warmen Finger, die nach meiner Hand tasteten, fühlten sich auf meiner kalten empfindlichen Haut wie Schürhaken an, sodass ich nicht verhindern konnte, zusammenzuzucken.
In der Hoffnung ihn von meiner Reaktion auf seine Berührung abzulenken, drehte ich mich unter Schmerzen zu ihm auf die Seite und versuchte mit einer möglichst beruhigenden Stimme zu sprechen: "Alles Gut, Schatz. Versuch weiter zu schlafen."
Ich war mir absolut sicher, wäre er nicht noch halb im Schlaf gefangen, hätten bei ihm die Alarmglocken sofort geschrillt. Doch so beobachtete ich mit wild klopfendem Herzen, wie er ein weiteres Grummeln ausstieß und den Kopf tiefer im Kissen vergrub. Allerdings schloss sich gleichzeitig seine Hand auch fester um meine... und das brachte mich schließlich dazu noch einen weiteren verräterischen Laut auszustoßen. Denn... es fühlte sich so fremd an. Als würde mir diese Nacht all das Glück der letzten Wochen stehlen, mich an das Häufchen Elend erinneren, dass ich eigentlich war.
Und obwohl Dyan keine fünf Zentimeter von mir entfernt lag, fühlte es sich so an, als würden uns wieder Welten trennen.
Ich schaffte es nicht das Schluchzen zu ersticken, bevor es mir über die Lippen schlüpfte.
Und ich spürte gerade zu wie dieser kleine Laut einen Schalter in Dyan umlegte.
Mit einem Mal lag ich nicht mehr neben einem völlig verschlafenem Kerl, sondern neben dem muskelbepacktem großen Bruder, der für seine Schwester und nun auch für mich alles tun würde, um unseren Schutz zu gewehrleisten.
"Tessa?" Es lag nicht nur daran, dass er nicht mehr meinen Spitznamen benutzte, dass dieses Mal seine Stimme den ganzen Raum mit ernster Besorgnis erfüllte. Eher daran, wie ein leichtes Zittern den Namen begleitete. Als würde auch er spüren, wie weit entfernt wir von einander waren... und als würde er das schon so lange fürchten.
Es zeriss mir fast das Herz und dieses Mal unterdrückte ich mein hicksendes Schluchzen auch nicht mehr. Auch, da ich einfach nicht mehr die Kraft dazu hatte.
Zusammen mit den Tränen erfasste meinen Körper  ein so heftiges Zittern, dass ich mich zusammenrollen musste, um nicht auseinander zu fallen. Bestimmt hätten auch Dyans Arme geholfen, die er um mich schlang. Aber er war so heiß, als würde ich zu nah an einem Feuer sitzen. Und der einzige Weg nicht zu verbrennen, war mich schlagend und tretend von ihm zu lösen, auch wenn ich wusste wie tief ich ihn damit verletzte. Aber dieser Drang nach allem um mich herum zu schnappen, verklang erst, als ich verheddert in meiner Decke als Häufchen Elend auf dem Boden lag.
Den Blick hatte ich dabei fest auf die Tür gerichtet, zu feige, um Dyans Augen zu begegnen.
Ich könnte euch sagen, wie oft in der darauffolgenden Stille mich ein krampfhaftes Zucken durchfuhr, allerdings nicht, wie viel Zeit verging.
Irgendwann jedenfalls nahm ich aus dem Augenwinkel wahr, wie Dyan begann sich zu bewegen. Allerdings war ich nicht mehr in der Lage dazu, ihm zu sagen, er solle sich wieder schlafen legen, dass alles Gut sei. Mal ganz davon abgesehen, dass es wohl auch alles andere als glaubwürdig gewesen wäre.
Doch allein der Gedanke, er könne sich gleich zu mir herunterbeugen, versuchen mich zu trösten, ließ mich mich noch enger zusammenkugeln. Alles in mir hatte sich in diesem Moment gegen Kontakt mit anderen Personen gesträubt.
Allerdings ging meine Befürchtung auch nicht in Erfüllung, stattdessen stieg er mit einem großen Schritt über mich... Und verschwand aus dem Zimmer. Das Geräusch mit dem die Tür hinter ihm Zuschlag war nicht laut, aber es reichte um meine Seele zu zersplittern.
Die Welt löste sich in einen Schleier von Tränen auf und innerhalb von einer Sekunde drohte ich an dem Schluchzen zu ersticken, dass völlig stumm über meine Lippen kam. Verloren. Ich war vollkommen verloren. In der Dunkelheit dieses Zimmers, in der Dunkelheit meiner Vergangenheit. Was hat mich glauben lassen, dass ich eine Beziehung führen könnte? Wer würde schon gerne seine Zeit damit verschwenden, ein Frag zu bergen, das nichts mehr wert war?
Mein ganzer Körper schmerzte, erinnerte an all die Male, in denen er zerbrochen wurde, zerschmettert, aufgeschlitzt und ausgehöhlt. Doch am schlimmsten war meine Brust, denn sie war leer. Wie ein schwarzes Loch, dass mich langsam von innen heraus auflöste. Wie ein Embryo rollte ich mich zusammen, den Rücken zur Tür und so eng an das Bett gepresst wie möglich. Meine Stirn lag an dem kühlen Material des Gestells und der Eindruck half, um zumindest den Druck in meinem Kopf etwas zu senken, soweit, dass ich zumindest mitbekam, wie sich mir Schritte nährten.
Aber ich rührte mich nicht. Spannte mich noch nicht einmal mehr an, denn es gab in diesem Moment eh nichts mehr, dass man mir noch wegnehmen, mir noch antun konnte.
Ich fühlte mich wie ein unbeteiligter Zuschauer, als Hände mich anpackten, an mir zogen und mich aus meiner zusammengerollten Haltung entwirrten. Aber ich verstand nicht den Sinn dahinter, vielleicht weil ich es auch gar nicht versuchte. Ich lag einfach nur da, wie eine leere Hülle und ließ mit mir geschehen, was auch immer hier gerade geschah. Es ist schon komisch. Fühlte sich so Tod sein an, wenn alles mit einem Mal unbedeutend wurde? Zumindest kam es mir wie das Gegenteil von Leben vor, denn selbst der Schmerz verschwand, wurde von dem schwarzen Loch in mir eingesogen. Und Schmerz war immerhin das, was mein Leben die letzten Jahre definiert hatte. Da war nur eine kleine leise Stimme in meinem Hinterkopf...

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