Kapitel 49

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Belle

Mein Vater meinte einst, dass jeder das Recht auf freie Entscheidungen und auf ein unversehrtes Leben habe. Dass er dafür sorgen würde, diese Regeln aufrecht zu erhalten und jene zu bestrafen, die dagegen verstoßen. Farblose verbrachen gegen sie, sie verunstalteten Staatseigentum, raubten Menschen und Läden aus und mordeten nach Belieben.

Auf dem Weg zu unserer Kabine, ging mir mein ganzer Aufenthalt im schwarzen Viertel durch den Kopf. Nicht mehr lange und ich wäre wieder zuhause, in meinen vier Wänden. Doch würde dann wirklich alles wieder so werden wie früher? Könnte ich wirklich ganz normal weitermachen als wäre ich nie weg gewesen, als hätte ich das Elend nie gesehen und erlebt?

Würde ich wieder in den Schlaf triften können ohne den leblosen Körper des Farblosen in diesem verseuchten Raum vor Augen zu bekommen? Ohne starke Hände an meinem Hals zu spüren? Ohne den Schrecken in meiner Brust verspüren zu müssen?

Ich atmete tief ein, um wieder zu Atem zu kommen als diese Gedanken erneut mich zu erdrücken drohten.

»Hier sind genau drei Betten. Ich werde ganz unten liegen und ihr zwei oben. Belle, in der Mitte.«

Erschöpft nickte ich und hob mich auf das kleine Bett, nachdem Shane an der Leiter hoch auf seinen Platz geklettert war. Ich legte mich auf die linke Seite und blickte genau in zwei dunkle Augen, die nachdenklich auf mich gerichtet waren. Wir waren nicht ganz auf Augenhöhe, er war größer als meine Betthöhe.

»Ist was?«, richtete ich mich auf soweit es eben ging mit dem nächsten Schlafplatz über mir.

Jack schüttelte den Kopf und blickte hoch. »Ich werde unten liegen, das heißt beim Versuch abzuhauen, werde ich das mitbekommen. Habt ihr mich verstanden?«

Das bereitete ihm also Kopfschmerzen. »Wir werden dir keine Probleme bereiten.«, erwiderte ich trocken und kehrte ihm den Rücken zu, indem ich mich mit dem Gesicht zur Wand hinlegte.

Von oben ertönte ein halbwegs zustimmendes Brummen.

»Gut« Ich hörte noch wie das Bett direkt unter mir knarzte als sich Gewicht darauf legte.

~~~

Nicht mehr lange. Nur noch einige Stunden, dann wäre ich wieder bei meinem Vater, bei Sierra und Emily... Ob sie mich vermisst hatten? Sie waren bestimmt schon krank vor Sorge, besonders Dad. Was hatte er in der Zeit getan?

Shelly behauptete zwar, dass er keine große Suchaktion nach mir gestartet hatte, aber dass ausgerechnet Shane irgendwann aufkreuzte, um mich zu retten, bewies das Gegenteil. Er hatte nach mir gesucht und mich gefunden. Mein Vater hatte mich nicht im Stich gelassen. Das hatte mich seit der Begegnung mit Shelly nicht mehr losgelassen. Aber jetzt war das alles nicht mehr relevant. Wichtig war nur, dass wie uns schon bald sehen und in den Armen liegen würden.

Es würde alles wieder gut werden. Es musste alles wieder gut werden. Ich hatte nicht umsonst bis hier hin durchgehalten. Ich hatte nicht umsonst um mein Leben gekämpft.

Doch was wenn er sich die Nachrichten angeschaut hatte? Was, wenn er den Artikel über die verräterische Violette, die mit dem Farblosen kooperierte, gelesen hatte? Glaubte er den Medien? Oder kannte er mich gut genug zu wissen, dass ich ihn niemals hintergehen würde?

Meine Unterlippe fing das Zittern an, wenn ich an meine Taten zurückdachte. Wie konnte ich den Blauen, meinen Verbündeten, den Rücken zukehren und mich mit einem Farblosen verbünden? Jason hatte meinem Vater sicherlich von meinem großen Fehler erzählt.

Ich wusste doch selbst nicht, was damals in mich gefahren ist. Wie sollte ich mich vor meinem Vater rechtfertigen, wenn er mich darauf ansprach? Ich musste ihm dann unbedingt von dem Fußkettchen erzählen. Wobei ich nicht einmal ganz wusste, wozu dieses Ding gut war.

Ich wischte mir die stummen Tränen weg und richtete mich ruckartig auf, wobei ich meinen Kopf fast an das über mir liegende Gerüst angehauen hätte.

Es war bereits stockdunkel in dieser Kabine, durch das kleine Fenster konnte ich Landschaften, an denen wir gerade vorbeizogen, gut bewundern. Aber darum ging es mir momentan nichts. Ich schwang ein Bein über das Bett und das andere setzte ich auf die Leiter, um mich mit einem Ruck hoch zu Shane zu schwingen. Als ich mich schließlich vergewissert hatte, dass er tief schlief, ließ ich mich auf dem Boden ab und kniete mich zu Jack. Auch dieser schien zu schlafen, zumindest ging ich aufgrund der regelmäßigen Atemzüge davon aus. Sein Gesicht war zur Wand gerichtet.

Unsicher presste ich die Lippen aufeinander und überlegte noch einmal ob ich ihn wirklich aufwecken sollte. War das wirklich eine gute Idee?

Ich schluckte schwer. Ich brauchte Vergewisserung. Wie sollte ich sonst ruhen? Genau als ich meine Hand hob, um ihn anzutippen, ertönte seine raue Stimme: »Was willst du?«

Ich schreckte kurz zurück und mein Herz fing an zu rasen. Wie? Woher?

Jack drehte sich schließlich genervt zu mir und seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, hätte er mich am liebsten aus dem Zug geworfen. Erst als er meine leicht glänzende Augen und die geröteten Wangen im Licht des Mondes registrierte, wurde sein Blick weicher.

Ich räusperte mich und öffnete den Mund, um ihm von meiner Sorge zu erzählen, doch es kam nichts aus mir raus. Mir fehlten plötzlich die Worte. Seine gekrauste Stirn und der erwartungsvolle Blick, sorgten für Aufruhr in meinem Magen.

»Brauchst du etwas?«, setzte er an, wobei er auf seine Lautstärke achtete.

»I-Ich« Wieso überlief mich eine Gänsehaut bei seiner Stimme? »Ich muss dich was fragen.«

Er nickte, um mir zu verdeutlichen, dass ich fortfahren sollte. Also tat ich es.

»Versprich mir, dass ich am Ende nachhause darf. Bitte.«

Jack stützte sich nun auf einen Arm und kam mir dadurch näher. »Das habe ich doch bereits?«

»Ja, aber« Ich atmete nochmal ein. »Aber tu es noch einmal. Ernsthaft.« Ich verkniff es mir auf die Lippe zu beißen. »Ich habe Angst, dass du uns nur mit leeren Worten dahin hältst.«

Das war meine größte Angst. Dass ich mir Hoffnungen machte, mich immer mehr nach meiner Familie sehnte und am Ende bekam ich sie nicht einmal zu Gesicht.

Ich hatte Angst, dass Jack uns nur für seine Zwecke ausnutzte und sich dann nicht mehr an sein Wort hielt.

»Sobald ich Matt habe, seid ihr frei. Ich verspreche es.«

Ich senkte den Blick. Ich glaubte ihm.

»Dafür verlange ich nicht viel. Nur dass ihr meinen Anweisungen folgt und nichts hinter meinem Rücken schmiedet. Kannst du mir das auch versprechen?«

Meine Lippen spalteten sich leicht.

Plötzlich brannte sich das Fußkettchen in meine Haut. Wie konnte ich ihm das versprechen? Das Fußkettchen konnte ich nicht so leicht ablegen. Was sollte ich dann meinem Vater sagen? Doch, wenn ich es nicht loswurde, wie konnte ich Jack in die Augen sehen und ihn anlügen?

Ich verlangte von ihm, sich an sein Versprechen am Ende dieser Mission zu halten, aber ich selbst konnte es nicht erwidern.

Mit schwerer Brust, flüsterte ich: »Versprochen.«

Und bei seinem dankbaren Nicken fühlte ich mich wie die hinterlistigste Verräterin auf Erden. Dieses kleine Lächeln auf seinen Lippen verdiente ich nicht. Es war nur ein kurzes Heben der Mundwinkel, aber für mich war es ein Lächeln. Das erste von ihm, das ich je zu sehen bekommen hatte.

Mir stockte der Atem. Und wieder vergaß ich, auf welcher Seite ich stand.

Red Princess - Die Suche nach der Roten PrinzessinWhere stories live. Discover now