Kapitel 18

3.3K 220 2
                                    

Belle

Wenn mir jemand vor einer Woche noch gesagt hätte, dass ich die Nacht mit einem Farblosen verbringen würde, hätte ich diese Person ausgelacht. Doch hier stand ich nun. In einem Raum mit ihm, atmete die gleiche Luft ein und setzte mich auf sein Bett. Mir war schlecht.

Auch sein Blick war skeptisch als er an mir - mit deutlichem Abstand - vorbei zur Couch ging und sich dort niederließ. Er hatte sich bereits eine Decke und ein Kissen rausgeholt. Erst klopfte er das Kissen durch und polsterte es genug, um seinen Kopf gemütlich darauf ablegen zu können.

Ich riss meinen Blick nicht von ihm während ich aus meinen Schuhen schlüpfte und die Knie anzog. Mir war bewusst, dass ich heute keinen Schlaf abbekommen würde. Auch wenn ich es dringend brauchte, konnte ich mich nicht auf die Worte eines Farblosen verlassen. Sie waren Lügner, Verräter und gewalttätig. Immerhin wurden sie zu seiner Zeit nicht ohne Grund aus der Gesellschaft verbannt.

Doch fragte ich mich auf einmal, was Jack getan hatte, um farblos zu enden. Hatte er vielleicht jemandem das Leben genommen?

Ich betrachtete ihn. Mit den braunen verwuschelten Haaren wirkte er beinahe unschuldig, aber die dunklen Augen und die harten Gesichtszüge machten das wett. Vielleicht schwerer Diebstahl?

»Starr mich nicht so an.«, schnaubte er während er sich auf den Rücken legte, die Arme unter dem Kopf gekreuzt.

Vielleicht bereute ich die Frage später, aber es interessierte mich brennend. Und um Vertrauen aufzubauen sollte ich mich vielleicht mit ihm unterhalten... »Was hast du getan?«

Als ich es aussprach erhielt ich keine Reaktion. Dennoch bemerkte ich wie diese Frage zu ihm durchdrang. Wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, hatte er den Atem angehalten und sich die Zeit genommen darüber nachzudenken. Letztendlich drehte er den Kopf in meine Richtung. Die Stirn hatte er in Falten gelegt. »Was meinst du?«

Ich verdrehte die Augen. »Wie bist du in diese Lage geraten? Also farblos, meine ich.« An seinem schwarzen Armband konnte ich deuten, dass er nicht in diese Farbe hineingeboren wurde. Er gehörte einst einer richtigen Farbe an. Ob er wohl ein Roter oder Blauer war?

Abfällig schnalzte er die Zunge und richtete sein Gesicht wieder gegen die Decke über uns. »Und wieso willst du das wissen? In deinen Augen bin ich doch ohnehin schon ein schlechter Mensch. Ganz egal von meiner Tat.«

Auch ich wandte den Blick von ihm schließlich ab. Unrecht hatte er nicht... 

Auch wenn es in der Hütte bereits dunkel war, erkannte ich den leisen Anflug eines Schmunzelns auf seinen Lippen. »Du bist so unglaublich arrogant und voreingenommen. Kaum zu glauben, dass dich meine Vergangenheit überhaupt interessiert.«

Nachdenklich legte ich mich auch auf den Rücken. »Ich bin zuvor noch nie einem Farblosen begegnet. Bis jetzt habe ich euch immer im Fernsehen gesehen... Und du kannst dir sicherlich vorstellen, was da gezeigt wurde...« Ich seufzte leise. »Wie würdest du über solche Menschen denken?«

Jack blieb eine Weile still. Fast dachte ich, dass er sich dazu beschlossen hatte mich zu ignorieren, aber dann antwortete er: »Es gibt immer zwei Seiten zu einer Geschichte.«

Zwei Seiten... Aber was konnte Überfälle auf unschuldige Bürger rechtfertigen?

Auch wenn ich mich dafür hasste, dass ich ihm ein wenig Recht gab, er hatte nicht ganz Unrecht. »Was ist denn deine Geschichte?«, traute ich mich eine mögliche Grenze zu überschreiten.

Der Farblose seufzte, aber schien nachzudenken.

Lange.

»Ich war noch ein Kind als die Regierung mich im Wald mit dem schwarzen Armband aussetzte.«

Ungewollt lachte ich auf. »Das glaube ich dir nicht.«

»Du willst die Wahrheit? Hier hast du sie: Reiche Menschen würden nie zulassen, dass ihre Wirtschaft und ihre Finanzen zu Schaden kommen. Hast du dich je gefragt wie dieses Land überhaupt zustande kam? Die Bevölkerung wurde nicht umsonst in dumme Farben eingeteilt. Das dient alles zur „Aufrechterhaltung" des Staates. Doch in Wirklichkeit wurden die Reichen damit reicher und die Armen nur ärmer. Die Kriminalitätsrate steigt somit automatisch an. Die untergeordneten Menschen streben sich gegen die geltende Ordnung und unfaire Lebensstandards. So entstehen Rebellionen, Aufstände, Überfälle und alles was dazu gehört.«

Er atmete wütend aus als würde er sich die aktuelle Lage in unserem Land bildlich vorstellen.

»Finanziell instabile Bürger schaffen es nicht mehr ihre Rechnungen zu begleichen oder gar ihre Gesundheit aufrecht zu erhalten, denn sie können sich ihre Versicherungen nicht mehr leisten, genauso wenig wie ihre Krankenhausaufenthalte oder Arzneimittel. Sie fallen in ein endloses Loch, aus dem sie kein Entkommen mehr sehen. Viele begehen deswegen Selbstmord, Andere hingegen fangen an wohlhabendere Menschen zu überfallen.«

Bei seiner Geschichte fühlte ich mich so unwohl wie schon lange nicht mehr. Einerseits wollte ich ihm das alles nicht glauben, aber andererseits machte es auch so viel Sinn. Ich hatte das Glück gehabt in eine wohlhabende Familie geboren worden zu sein, aber er?

»Jeder macht Fehler, aber du kannst mir nicht sagen, dass diese Menschen nicht dazu getrieben worden sind. Immerhin ließ man ihnen keine andere Wahl.« Er hielt inne. Ich dachte er sei fertig, da fuhr er fort: »Und weißt du wie voll dadurch sämtliche Gefängnisse wurden? Wie viele neue aufgrund dieser Lage gebaut wurden? Das alles wird irgendwann zu kostspielig für die Regierung, da bestraft man sie einfach anders. Härter.«

Ich war sprachlos. Mit dieser langen Erklärung hatte ich nicht gerechnet und jetzt wusste ich nicht wie ich damit umgehen sollte. Mein Vater sagte immer, dass niemand in diesem Land zu unrecht bestraft werde. Er sagte auch, dass es allen Bürgern gut ginge. Dass ihre Grundversorgung immer gedeckt seien. Doch erklärte er mir nie wie es zu diesen Kriminaltaten kam. Ich wollte Jack wirklich nicht glauben oder an den Worten meines Vaters zweifeln. Wahrscheinlich war das der richtige Zeitpunkt Jack über die tatsächliche Regierung aufzuklären. Ihm von all den guten Dingen zu erzählen oder mit ihm über die neuen tollen Ideen meines Vaters zu reden...

Das sollte ich wirklich, aber ich schaffte es einfach nicht. Er konnte mir nicht einreden, dass Farblose unschuldig waren. Sie hatten meine Mutter auf dem Gewissen. Sie hatten viele Menschenleben auf dem Gewissen.

»Wie hast du deine Eltern verloren?«, unterbrach Jack meine Gedankenzüge als es wieder ruhiger wurde.

Die Frage warf mich aus der Ruhe und raubte mir den Atem.

Beruhig dich. Es ist nur eine einfache Frage.

Die Nacht war angebrochen, ich schüttelte im Dunkeln den Kopf, um meine Zweifel loszuwerden. Ich wollte nicht mehr mit ihm reden. Das Alles war surreal, er redete nur wirres Zeug. Damit bewirkte er bei mir nichts. Ich vertraute meinem Vater und schenkte ihm Glauben.

Widerwillig nahm ich meinen Blick von der Decke und sah in seine Richtung. Mit dieser Frage holte er mich wieder zurück in die Realität. In die Realität, in der genau die Seinesgleichen mich meiner liebevollen Mutter beraubt hatten. Ich kehrte ihm den Rücken zu, aber nicht ehe ich mir die Vase krallte und sie mir fest an die Brust drückte. »Die Farblosen«, sagte ich die Wahrheit und nahm mir fest vor, von nun an zu schweigen. Es fiel mir schwer mich mit einem Mörder meiner Mutter zu unterhalten.




Noch nie wurde ich so laut von Vogelzwitschern geweckt wie an diesem Morgen. Ich streckte mich ausgiebig aus und gähnte einmal. Dann blinzelte ich überrumpelt als ich die Vase neben mir entdeckte, denn das erinnerte mich erneut an meine missliche Situation.

Verdammt! Wie konnte ich nur einschlafen?! Schnell drehte ich mich in Richtung Couch, um nach Jack zu sehen, aber da war niemand. Ich sprang auf die Beine und sah an mir herab. Ich war noch in seinen Klamotten und ich war unversehrt. Erleichtert atmete ich auf.

»Hallo?«, fragte ich sicherheitshalber in die Hütte.

Die Badezimmertür sprang auf und Jack kam mit zerzausten Haaren zum Vorschein. »Morgen«, sagte er in einem rauen Stimmfall.

Unsicher sah ich ihn an. »Morgen.«, erwiderte ich halbherzig.

»Du kannst rein.Ich habe deine dreckige Kleidung bereits weitergegeben, damit sie sauber gemacht wird, aber für heute musst du mit denen klarkommen.«

Red Princess - Die Suche nach der Roten PrinzessinWhere stories live. Discover now