Kapitel 82

1.4K 91 7
                                    

Belle

Es war der längste Ton, der wehleidigste Klang, der meinen Mund je verlassen hatte als ich den leblosen Körper meines Vaters auf der kleinen Pritsche in der Hütte erblickte. Sein Brustkorb hob sich nicht, er bewegte sich nicht. Er hatte aufgehört zu atmen. Ich hörte mein Blut rauschen. Noch bevor der letzte Schrei verklang, verließ der nächste hilflos meine Kehle. Meine zitternden Hände tasteten nach dem blassen Gesicht meines Vaters und pressten seine Stirn gegen meine. »Wach auf... Bitte, mach die Augen auf«, weinte ich unaufhörlich, wiegte ihn in meinen Armen. »Bitte...«

Was war geschehen? Wie war es dazu gekommen? All diese Fragen spielten keine Rolle, denn es war soweit gekommen – er war tot. Mein Vater war tot. Und es gab nichts, das ich noch ändern, das ich noch retten konnte. Ich hatte in meinem Bett geschlafen, mich im Schlaf gewälzt während er seinen letzten Atemzug machte. Ich war nicht bei ihm gewesen... Und es tat so weh. So schrecklich weh! Warum?! Warum geschah das alles? Warum musste er krank werden? Warum musste er sterben? Wir hatten uns doch erst seit Kurzem erst wieder!

Ich schrie mir die Seele vom Leib. Mein Schrei hallte in den vier Wänden wider. Noch nie in meinem Leben hatte ich einen solch brennenden Schmerz verspürt. Es fing in meiner Brust an und breitete sich wie ein Lauffeuer in alle Richtungen aus.

Man ließ mich mit meinem Vater alleine, ließ mich trauern und Abschied nehmen. Aber aus mir kam kein einziges Wort raus. Was sollte ich sagen? Es tut mir leid?

Ob er wusste, dass mir mein früheres Verhalten und meine verletzenden Worte leid taten? Ob er mich deswegen verabscheute? Mir nie verziehen hat? Diese Unwissenheit war mir nicht fremd. Es erging mir nicht anders als ich über den Tod meiner Mutter erfuhr. Mit ihr hatte ich auch viele Uneinigkeiten gehabt und sie bis zum heutigen Tage bereut. Doch mit meinem Vater war es schlimmer. Wir hatten uns mehr gestritten als uns unsere Zuneigung zu zeigen. Ich hatte immer ihm die Schuld für den Tod meiner Mutter gegeben. Hatte ihn dafür gehasst so schnell wieder geheiratet und mich in diesem Palast eingesperrt zu haben. Wieso musste ich so stur sein? Wieso musste ich an jenem Tag das Haus verlassen? Wieso musste ich mit ihm diskutieren, ihn anschreien? Ihm die Schuld an allem geben, wenn sein einziger Fehler der war, mich beschützen zu wollen?

Mit der letzten Hoffnung, die ich noch aufbringen konnte, lauschte ich nach einem Herzschlag. Nur ein Geräusch... Nur ein Herzklopfen... Irgendwas... Doch ich hätte es besser wissen müssen. Meine Tränen tropften auf seine Brust als ich das Kinn wieder anhob, um ihn anzusehen. Das durfte nicht wahr sein.

Ein weiteres Mal schüttelte ich den Kopf. Nein. Er würde gleich aufwachen. Er musste einfach die Augen öffnen, mir ein letztes Mal auf die Schulter klopfen und mich aufmuntern. Er musste mir ein letztes Mal Hoffnung geben, mich in seine Arme ziehen und sagen, dass alles gut werden würde. Anders wusste ich nicht, wie ich das hier überleben sollte, wie ich hier nach weiterleben sollte. Ohne ihn wollte ich dieses Viertel nicht verlassen. Zusammen hätten wir zurückkehren müssen, um Seite an Seite das Land von Grund auf neu zu gestalten, alte Fehler zu begleichen, Gerechtigkeit für alle zu schaffen und gemeinsam zu regieren.

Es fiel mir immer schwerer die Augen geöffnet zu halten während ich inzwischen stumm vor mich hin weinte. Mein Körper stand in Flammen, Schweißperlen bildeten sich an diversen Stellen meines Körpers und mir wurde schwarz vor Augen. Das letzte das ich hörte war mein lauter Herzschlag.

Mir war schlecht. Noch bevor ich zu mir kam, leerte ich meinen wenigen Mageninhalt auf dem Boden neben mir aus. Es schmerzte mir im Rachen, drückte gegen meinen Brustkorb und erschwerte mir das Atmen als ich fertig war. Keuchend richtete ich mich im Bett wieder auf und starrte meinen Schoß an. Meine Hände bewegten sich nur langsam bei dem Versuch mir die Haare nach hinten zu streichen. Meine Schläfen pochten. Ich lehnte mich mit dem Rücken an der Wand an und schloss die Augen in der Hoffnung wieder in das Land der Träume, wo meine Welt noch heil und alles in Ordnung war, verschwinden zu können. Aber die Erkenntnis traf mich wie eine Wucht. Ich war nun eine Waise. Ich hatte kein Elternteil mehr. Ich hatte niemanden. Keine Familie, keine Freunde. Niemanden. Ich war allein.

Red Princess - Die Suche nach der Roten PrinzessinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt