Prolog: Das Märchen vom tüchtigen Bauernsohn

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Es war einmal ein Bauer, der hatte zwölf Töchter, doch er war bitterarm und konnte ihnen die Mitgift nicht zahlen. Also ging sein einziger Sohn zu ihm und sagte: „Vater, ich werde in die Welt hinausziehen und mein Glück machen, und wenn ich reich geworden bin werde ich zurückkommen und wir werden bis an unser Lebensende kein Hunger mehr leiden müssen." Und dem Vater war es bange um seinen Jungen, aber er ließ ihn ziehen.

So ging der Bauernsohn dahin und war frohen Mutes, als er einen Mann traf, der war unter einem Baumstamm eingeklemmt und rief um Hilfe. „Nanu", sagte der Bauerssohn. „Was für ein wundersamer Anblick", aber weil er ein braver und tüchtiger Junge war, eilte er dem Mann sofort zur Hilfe. „Dort drüben ist meine Axt, schlage mich mit ihr frei!", sagte der Mann und so tat es der Junge, und wie der Mann frei war gab er ihm eine goldene Beere und sagte: „Iss und du sollst dein Leben lang immer gute Arbeit finden für den Dienst, den du mir getan hast." Und mit einem Mal war er verschwunden und der Bauerssohn wusste, dass er einen Zauberer getroffen hatte. So begab er sich weiter auf Wanderschaft und kam an ein Sägewerk und bat um Arbeit. „Wir haben nichts für dich", sagte der Meister, aber der Bauerssohn aß die Beere des Zauberers und mit einem Mal sprang das Holz unter seiner Berührung von allein unter die Säge und er bekam augenblicklich Arbeit. Für einen Monat arbeitete er im Sägewerk, bis es ihm langweilig wurde und er weiterzog.

Schnell kam er zu einem Förster und bat ihm um Arbeit und als der Förster ihn abweisen wollte, da streckte er die Hand aus und die Bäume fielen von allein um. „Ai, dass du gekommen bist muss ein Zeichen des Himmels sein", sagte der Förster und gab ihm sofort Arbeit. Für zwei Monate blieb der Bauerssohn bei ihm, bis es ihm übel wurde und er weiterzog.

Schließlich führte sein Weg den Bauernsohn zu einem Hafen, wo ihn die Seeleute auslachten, als er nach Arbeit fragte. „Was will ein Holzfäller auf dem wilden Meer?", fragten sie und der Bauerssohn hob die Hand und die Schiffe ächzten und rissen sich von den Stegen und da verstummten sie und nahmen ihn sofort in die Mannschaft. Er war ein tüchtiger und guter Seemann und wann immer er an Bord war, war einem das Schiff gut gesinnt und die Beute reich, doch nicht allen Matrosen war seine Herrschaft über das hölzerne Schiff ganz geheuer. Eines Nachts schlichen sie sich in seine Kabine als er tief und fest schlief, packten ihn an Armen und Beinen und warfen ihn über Bord. 

Der tüchtige Seemann erwachte, als er tief in den Fluten versank, doch es war zu spät und er konnte nicht schwimmen und so sank er und sank er bis er ertrunken ward. Doch als sein Körper auf dem Meeresgrund aufkam, da schwamm gerade eine wunderschöne Meerjungfrau vorbei und verliebte sich sofort unsterblich in ihn. Sie sah, dass sein Leben noch immer mit dem Schiff verbunden war, von dem er gefallen war und sie zog ihn durch das weite Meer, bis sie dort ankamen, wo seine alte Mannschaft ankerte. Sie wickelte ihn in das Ankertau und als er hochgezogen wurde und das Deck des Schiffes berührte, da begann er wieder zu atmen. Der Kapitän erfuhr, was die missgünstigen Matrosen getan hatten und ließ sie in versiegelten Fässern vom Schiff stoßen, wonach sie wohl noch immer über die Wellen treiben. Die Meerjungfrau erzählte dem tüchtigen Seemann von allen Schätzen auf dem Meeresboden und er schickte seiner Familie viele Truhen voller Gold, und weil sie ihn so liebte warf sie ihren Fischschwanz ab und sie heirateten und lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage."

Der Händler lehnte sich mit verschränkten Armen zurück.

„Das ist sie, die Geschichte", sagte er. „Aber viel Wahres ist nicht an ihr. Ich habe von einem Mann gehört, dem etwas ganz Ähnliches widerfahren ist, doch er hat keine Familie und er ist nicht reich, und eine Meerjungfrau hat er ganz bestimmt nicht geheiratet."

„Aber er ist aus Holz", bemerkte sein Gegenüber mit einem wissenden Lächeln. „Wie das Schiff, das ihn wieder zurück ins Leben geholt hat."

Der Händler hob überrascht die Augenbrauen. Er war es nicht gewohnt, dass die anderen Gäste in den Wirtshäusern ihn nach Geschichten fragten, ganz bestimmt nicht Morgenländer wie der Mann vor ihm. Dass sie nicht nur die Geschichte schon zu kennen schienen, sondern auch die Wahrheiten, auf denen sie beruhten, war ihm völlig neu.

„In der Tat", sagte er und musterte den anderen Mann interessiert. „Ihr klingt, als wüsstet ihr, wovon ihr sprecht, Herr ..."

„Samir", endete dieser lächelnd. „Einfach nur Samir. Wir folgen den Ursprüngen dieser Geschichte eine ganze Weile schon und hoffen, mehr über den wahren Teil zu erfahren."

„Warum sagt Ihr das nicht gleich?", brummte der Händler, aber ohne wirklichen Unwillen. Er mochte die Geschichte, auch wenn er sie nicht oft erzählte. „Aber er wird euch keine versteckten Unterwasserschätze zeigen können, wenn Ihr Euch das erhofft."

„Mitnichten", widersprach der Herr Samir belustigt. „Habt ihr ihn selbst schon getroffen, den auferstandenen Seemann?"

„Ich nicht", gab der Händler zu. „Aber wenn Ihr weiterreist – in der nächsten Hafenstadt gibt es ein paar ansässige Ladenbesitzer, die wohl mit ihm Handel getrieben haben. Er befährt die See noch immer. Sogar ein Kapitän soll er inzwischen sein."

Sein Gegenüber neigte den Kopf.

„Habt Dank", sagte er ehrlich, bevor er sich erhob und mit wundersamer Eleganz davon schritt, zurück in andere, unersichtliche Ecken der Gaststube. Fast augenblicklich war der Junge heran, der dem Wirt zur Hand ging.

„Meint ihr, er ist es?", fragte er mit einem andächtigen Flüstern.

„Wer?", entgegnete der Händler stirnrunzelnd.

„Na, der Wanderprinz!", sagte der Junge und seine Augen leuchteten. „Ein Morgenländer, der nach Märchen fragt!"

Der Händler legte die Stirn in nachdenkliche Falten. Vom Wanderprinzen hatte er selbstverständlich gehört, aber der einzelne Fremde hatte ihn nicht an ihn erinnert.

„Ich bezweifle es", sagte er nach einem Augenblick. „Der Wanderprinz wäre nicht allein unterwegs. Und was für ein Abenteuer würde er sich schon von einem Mann versprechen, der den Tod lange überstanden hat?"

Dornen - Das Königreich in FlammenWhere stories live. Discover now