50 - Inocente

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Inhaltswarnung: Darstellung/Diskussion von sexueller Übergriffigkeit

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Fünf Tage. Fünf Mal war Willehad aufgewacht und hatte in tiefer Erleichterung eingeatmet, weil niemand vor seiner harten Pritsche stand, um ihn fortzuschleifen. Alle hielten ihn für einen Idioten, er war innerhalb von Stunden zum Gespött der gesamten Wachmannschaft geworden, aber keiner fragte mehr nach den seltsamen Umständen, unter denen er gekommen war, oder schien seine Anwesenheit irgendwie anzuzweifeln.

Doch auch nach fünf Tagen, die sein viel zu waghalsiger, dummer, unberechenbarer Plan aufgegangen war, gab es kaum einen Augenblick, indem er nicht weiter zitternd seine Entdeckung erwartete. Sein neuer Freund von der oberen Schlosswache, Benito, hatte dem alten Kommandanten der Kerkerwache völlig glaubhaft versichert, dass er Willehad – nun, Inocente – bereits kannte und eine lange Geschichte erfunden, die vor ihm unbekannten Namen nur so strotzte und genau das richtige schien, um den Kommandanten nicht einmal mit der Wimper zucken zu lassen über Willehads Ankunft. Ein paar der Namen hatte behalten können und spulte sie ab, sobald ihn seine neuen Kameraden unter der Erde ausfragten. Kommandant Huevo hatte einen kurzen Kommentar über den Kommandanten von Cardossa abgelassen, und seine Vorliebe für stundenlange Bogenschießübungen und als Willehad zu seinem großen Schrecken einen weiteren Rekruten aus Cardossa getroffen hatte, erwähnte er rasch ebenjene Übungen und lenkte damit erneut einen möglichen Verdacht ab. Wenn es gar nicht mehr anders ging, wenn nichts von dem Mitgehörten ihm mehr weiterhalf, tat er einfach so als würde er stolpern, weil er so wenig vom Boden erkannte. Dann lachten die anderen Wachen und vergaßen rasch, was sie ihn gefragt hatten darüber, wie sie ihn aufzogen und verspotteten, manche gutmütig dabei und manche bissiger, aber alle noch immer völlig ahnungslos. Ein Wunder, in der Tat.

Besonders neugierig waren die Kerkerwachen zum Glück ebenfalls nicht. Es gab ein paar unangenehme Gesellen, die es nach hier unten verschlagen hatte, weil sie sich gerne ihren Spaß mit den hilflosen Gefangenen erlaubten, aber die meisten gingen nur stur ihre Runden und warteten auf den Abend, wenn sie sich in den Kammern betrinken und ihren Sold gegeneinander beim Spielen verlieren konnten. Noch gefiel es ihnen, ihre Scherze mit Willehad zu treiben, aber schon die ersten Kameraden von ihm, mit den er zusammen auf die verschiedenen Posten geschickt wurden, gähnten nur noch gelangweilt, wenn sie stundenlang an den feuchten, kühlen Ecken der weitläufigen Kerker stehen mussten. Nur die Wachen, die schon länger unter Huevos Kommando standen, durften auch richtige Runden drehen, sie selbst mussten einfach nur achtgeben, dass nichts Verdächtiges geschah. Und selbst ein fast blinder Idiot aus Cardossa konnte erkennen, wenn sich in den Gängen etwas regte, das dort nicht sein sollte, befanden selbst die überheblichsten unter den Wachen bald. Auch wenn er wegen seinen Sehschwierigkeiten wohl niemals ohne Partner losgeschickt werden würde.

Willehad hatte schnell beschlossen, seine Sehschwierigkeiten noch viel stärker zu spielen, als sie ohnehin waren. Er sah nicht gut genug, um die Züge eines Menschen zu erkennen, der weiter als zwei Schritte Abstand von ihm hatte, aber tat von Anfang an so, als würde er seine eigenen Füße nicht mehr vom Boden unterscheiden können. Die anderen Wachen lachten über seine Angewohnheit, sich deswegen alles ganz genau anzusehen und einige nannten ihn ‚den Schnüffler', weil er laut ihnen seine Nase über alles rieb, was ihm vor seine schlechten Augen geriet, aber Willehad hatte einen guten Grund dafür – denn so konnte er die kaum bemerkbaren Reste der Flüssigkeit an den Wänden sehen, mit denen sie bei ihrem letzten Ausflug hier den Weg markiert hatten. Mit einer Sicht, die ohne Brille so anders war als mit, konnte er schwer sagen, ob er diesen Teil der Kerker kannte oder nicht, aber sobald er eines ihrer Zeichen finden würde, hätte er zumindest einen Anhaltspunkt. Und wenn er das hatte, dann ... dann ... So weit wagte er kaum zu denken, aber suchen brachte er gerade noch hin.

Dornen - Das Königreich in FlammenWhere stories live. Discover now