55 - Das Dorf in den Bergen

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Samir hoffte auf eine unschuldige Erklärung für das Bild auf der anderen Seite des Flusstales, oh, wie er hoffte – bis er die Dornen erkannte, die wütend nach den Berghängen ausschlugen, zielstrebig und tödlich. Es war unmöglich zu sagen, wie erfolgreich sich Prinz Cristian und die anderen dagegen verteidigten, der aufgewirbelte Staub zu dicht. Eine Steinlawine musste auf sie herabgegangen sein, während er ihnen den Rücken zugewandt hatte. Das würde die Verteidigung gegen die Dornen nur erschweren.

Hoffentlich hatte der Vogel Elwa erreicht, bevor sie den Männern bis zum Berghang gefolgt war. Dornen und Steinschlag, das konnte nur ein Hinterhalt sein, mit dem sich die Bergstämme gegen unerwünschte Besucher wie sie verteidigten, ihre Mission kurz vor dem Scheitern. Vielleicht war es besser so.

Doch die grimmige Genugtuung über diese Feststellung hielt nicht lange an, denn ein Schatten verdunkelte die Sonne über Samir und sein Kopf fuhr nach oben, nur um das Ziel als seiner Bemühungen knapp über sich herabtauchen zu sehen.

Der Drache.

Er hatte ihn nie bei klarem, hellen Himmel gesehen, die ganze Pracht und Eleganz seiner mächtigen Erscheinung und für einen Moment raubte es ihm den Atem. Die Kreatur flog so tief, dass er sie mit Pfeil und Bogen hätte treffen können, aber er hatte nichts als sein Schwert und konnte nur zusehen, wie der Drache über die Dornen hinweg segelte und am Berghang landete, wo er die Staubwolke merklich auflockerte und augenblicklich begann, Feuer gegen die Dornenranken zu spucken.

Ein Schauer durchlief Samir bei dieser Beobachtung. Der Verdacht, der sich in ihm immer mehr verhärtet hatte, wurde zur Gewissheit: der Drache und die Dornen standen nicht auf der selben Seite. Und das konnte nur bedeuten, das bedeutete ... Wenn irgendjemand in Cristians Gruppe noch auf den Beinen war, durfte Samir nicht zulassen, dass sie den Drachen angriffen.

Doch einen Kampf gegen den Drachen zu verhindern lag noch nicht in seiner Macht, so sehr er sich auch beeilte. Die Dornen standen noch immer hoch, wenngleich die Flammen der Kreatur ihnen näher kamen und jederzeit einen Durchgang hineinbrennen konnten, so wie Samir es sich viel früher erhofft hätte. Etwas in ihrer Mitte bewegte sich anders als die Ranken am Hang, er kniff die Augen zusammen und versuchte es genauer in Augenschein zu nehmen, als er von der schwarzen Masse abgelenkt wurde, die den Berg hinabgeströmt kam.

Erst hielt er es für einen riesigen Vogelschwarm, Krähen oder Raben, die sich in großen Massen auf die Reste der Steinlawine herabstürzten, auf der Suche nach Nahrung. Doch obgleich die Tiere vor ihm klein waren, wären Vögel auf diese Entfernung noch viel schwerer zu erkennen gewesen und als sie weiter unten waren erkannte er mit einem Aufkeuchen, worum es sich wirklich handelte: Pferde. Fliegende Pferde. Auf ihren Rücken saßen Kämpfer mit Bögen und mächtigen Prügeln an ihre Seite geschnallt, dick in Felle eingepackt und im Reiten auf den Drachen zielend. Die Pferde glitten dicht über den Berghang hinweg, als bräuchten sie die Verbindung zum Grund, aber Samir bezweifelte nicht, dass er soeben das Ziel von Cristians Mission vor Augen hatte.

Fliegende Pferde waren nicht der magische Spruch, den er erwartet hatte, aber völlig überraschen konnten sie ihn nicht. Candalonien war bekannt für seine alten Reitervölker und jetzt für seine Pferdezucht, dass die Magie der Bergstämme in fliegenden Tieren Gestalt annahm, war nur die logische Fortführung davon. Dennoch schienen die Kämpfer selbst weniger daran interessiert, dem Drachen völlig den Garaus zu machen, als ihn nur davon zu treiben. Samir sah eine letzte helle Flamme aus seinen Nüstern auflodern und einen Korridor in die Dornen brennen, kurz bevor er die Flügel ausstreckte und sich vom Boden abstieß, ohne dass die fliegenden Reiter Anstalten machten, ihm zu folgen. Stattdessen brachten sie die Pferde am Beginn des Hanges auf den Boden, wo Samir die Männer vermutete, ihre Bewegungen flüssig und zielstrebig. Er konnte erkennen, wie sie Körper aus dem gefallenen Geröll zogen und zu ihren Pferden brachten, wenn auch nicht viel mehr.

Dornen - Das Königreich in FlammenWhere stories live. Discover now