Epilog: Das Märchen vom verlorenen Herzen

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Einmal da kam der Wanderprinz in einen tiefen, dunklen Wald, in dem ein schreckliches Monster hauste, das hatte das Gesicht von tausend lieben Menschen und war so heimtückisch, dass der Wanderprinz es nur unter großem Aufwand zu besiegen vermochte. Doch wie es dalag und sein Atem aushauchte, da packte es den Prinzen an der Brust und entriss ihm das Herz, das sich sogleich in einen Vogel verwandelte und unter seinen Fingern davonflatterte.

‚Das ist der Preis, den Ihr zahlt für Euren Sieg', sagte das Monster und war gestorben. Eine große Kälte überkam den Prinzen, doch er blieb tapfer und guter Dinge und beschloss, seinem Herz zu folgen und es zurück in seine Brust zu holen. Also zog er aus und kam zuerst zu einer wunderschönen Prinzessin, die versuchte die Leere mit Rosen zu füllen. Als nächstes fand er eine Heilerin, die ihm Heiltränke und Tinkturen einflößte, und einen Gelehrten, der seine Bücher nach einer Hilfe durchsuchte, aber all ihre Bemühungen waren gerade genug, dass er vor sich den Gesang seines eigenen Herzens lauter hören konnte. Doch sie alle waren bewegt von der Suche des Wanderprinzen und schlossen sich ihm an.

Sie erfuhren von einem weisen Magier in einem fernen Land, der konnte jedes abgetrennte Glied wieder anwachsen lassen. Doch auf dem Weg in das Land stellten sich ihnen zwei Krieger entgegen und wollten sie nicht ziehen lassen. ‚Wer an uns vorbei will, der muss mit uns kämpfen bis hin zum Tod', sagten sie und der Wanderprinz, der ohne Herz weder Furcht noch Schmerz kannte, zog sein Schwert und kämpfte tapfer, bis ihm die Klinge durch die Brust gestoßen ward. Als er nicht starb, da fielen die Krieger auf die Knie und schworen ihm ewige Treue, woraufhin das davongeflogene Herz sich vor ihnen in den Himmel erhob und der Wanderprinz mit ihnen allen hinterherzog, tief in den Wald hinein. Als es kalt wurde und sie das Herz nicht mehr sehen konnten, kamen sie an eine Jägerhütte und die Jägerin gewährte ihnen ein Platz am Feuer und lauschte der Geschichte. Sie bewunderte die Entschlossenheit des Wanderprinzen und kam mit ihm, damit sie für ihn den Spuren des entflogenen Herzens folgen konnten und er ihm näher und näher kam.

Das Herz flog weiter und weiter und führte sie zu einem Land, in dem ein bitterer Krieg herrschte. Es gab einen Weg, der geradewegs an den Kämpfen vorbeiführte, doch der Wanderprinz sah das Leid der Menschen und erinnerte sich daran, wie ihn sein Herz einmal angehalten hatte, allen Armen und Schwachen zu helfen, also blieb er und half. Er und die Krieger kämpften tapfer gegen die Eindringlinge, die Jägerin spürte ihren bösen Herrscher auf, damit der Wanderprinz ihn unschädlich machen konnte und als alle Kämpfe vorüber waren, heilte die Heilerin die Verletzten, der Gelehrte baute die Schulen wieder auf und die Prinzessin füllte das Land mit wunderschönen Rosen, sodass es sich dort besser lebte als jemals zuvor.

Nur das Herz war in der Zeit weiter geflogen und der Wanderprinz spürte es furchtbar in seiner Brust ziehen, dass er wie todkrank war. Deshalb gaben die dankbaren Leute ihm jeder ein Stück von ihrem Herzen, bis er genug Kraft hatte weiterzuziehen und den Gesang wieder vor sich hören konnte. Gemeinsam schafften sie es bis in die ferne Heimat des Magiers und standen vor seinem Schloss und durch die vergitterten Fenster konnten sie das verlorene Herz sehen, doch der Graben war tief und die Mauer hoch.

Lorelei runzelte die Stirn.

„Das ist alles?", fragte sie verwirrt. „So lange, wie du daran geschrieben hast – und so hört es auf?"

„Du hattest eine Menge Kommentare über den Gelehrten, die ich einbeziehen musste", erwiderte Willehad und zog ihr mit roten Ohren das beschriebene Papier wieder aus der Hand. Sie stützte sich mit beiden Händen auf seine Schulter ab und legte ihr Kinn darauf, sodass sie ihm direkt in die Augen sehen konnte, als er sich umdrehte. Er wollte aus Reflex vor der Berührung zurückscheuen, bevor ihn sein Verstand erinnerte, dass es jetzt erlaubt war. Vorsichtig legte er einen Arm um ihre Seite, noch nicht ganz überzeugt, dass es wirklich so einfach gehen sollte, und wurde mit einem breiten Grinsen von ihr belohnt.

„In deiner ersten Version war der Gelehrte nicht einmal dabei", sagte sie. „Dabei hat er einen wichtigen Teil in der Geschichte gespielt!"

„Es ist nur eine Kunstversion", murmelte Willehad verlegen. „Ein Weg, das alles zu verarbeiten."

„Aber du willst es erzählen, oder?", hakte Lorelei fröhlich nach. „Sonst hättest du bestimmt drei Seiten lang die Vorzüge der Heilerin angepriesen."

Willehad räusperte sich. „Wenn du findest, dass ich nicht genug ...", begann er, wurde aber von einem überschwänglichen Kuss auf die Wange unterbrochen.

„Ich mach Witze!", rief Lorelei kichernd. „Natürlich mache ich Witze. Mir gefällt es so, wie du es geschrieben hast. Wie ein echtes Märchen, aber mit einem Funken Wahrheit."

„So sind die meisten Märchen", sagte Willehad mit einem Lächeln. „Anders hätten wir nie unseren Weg hierher gefunden."

„Hm", machte Lorelei und legte nachdenklich den Kopf schief. „Ein Ende braucht es trotzdem, wenn du es irgendjemand anderem erzählen willst."

Sein Blick wanderte unweigerlich zu dem versteckten, unscheinbaren Pfad, in dessen Nähe sie das Lager aufgeschlagen hatten.

„Sie sind noch nicht zurück", sagte er leise. „Wir wissen nicht, wie es ausgeht."

Lorelei legte den Kopf an seine Schulter, ganz beiläufig und vertraut und Willehad atmete tief aus. Ein Versprechen von Glück. Er wagte kaum, sich zu bewegen.

„Wie willst du, dass es ausgeht?", fragte sie leise. Sie beugte sich nach vorne, um einen Stift aus seinem Gepäck herauszusuchen und ihm in die Hand zu drücken, bevor sie ihm zuzwinkerte. Willehad schüttelte lächelnd den Kopf, bevor er das Papier wieder an sich zog und noch einmal den letzten Paragraphen überflog. Dann setzte er den Stift an, Lorelei über seine Schulter schauend.

Aber nichts konnte den Wanderprinzen und seine Freunde aufhalten und gemeinsam erreichten sie das Innere des Schlosses, wo das entflogene Herz friedlich auf der Hand des Magiers saß.

‚Euer Weg hat mich sehr beeindruckt' sagte er und er gab dem Wanderprinz sein Herz zurück und belohnte ihn und seine Freunde reichlich für ihre Selbstlosigkeit. Und sie alle waren glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage und mussten nie wieder einem Übel begegnen."

„Ja", sagte Lorelei zufrieden. „Dieses Ende gefällt mir."

ENDE

Dornen - Das Königreich in FlammenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt