56 - Das Schicksal eines Königreichs

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Elwa ergriff die Flucht, so bald sie konnte. Samirs Blick brannte in ihrem Rücken, als sie das Haupthaus verließ, mehr als alle wachsamen Augen der Ältesten zusammen, aber sie konnte keine Sekunde länger dort drinnen sitzen bleiben und für einen Handel diskutieren, den sie niemals hatte abschließen wollen. Sie hatte dafür gesorgt, dass der Niok-Stamm und die anderen Ältesten sie anhörten und mehr konnte sie nicht tun. Mehr konnte Jester nicht von ihr verlangen.

Sie atmete die kühle Luft ein, frischer und reiner als unten und kalt genug, um sie erzittern zu lassen. Bevor sich die Ältesten mit ihnen für die Verhandlungen zusammen gesetzt hatten, hatten zwei Frauen aus dem Dorf sie herumgeführt, so höflich und respektvoll, als wären sie von Anfang an nichts als geschätzte, geladene Gäste gewesen und jetzt ließ man sie völlig allein durch das dunkle Dorf gehen. Flüchten hätte sie ohnehin nicht können – die Pfade nach unten waren bewacht, genauso wie die Koppel der fliegenden Pferde. Selbst wenn es anders gewesen wäre, in der Dunkelheit den Berg hinunterzusteigen ohne den Weg zu kennen, würde nicht gut enden.

Trotzdem. Elwa war froh über die Freiheit, unerwartet nach der Weise, wie sie hier nach oben gebracht worden waren. Unerwartet nach den Geschichten, die sie über das raue Wesen der Bergstämme gehört hatten. Falls sie noch irgendwelche Zweifel daran gehabt hätte, dass die Geschichten alles verdreht hatten, wären sie ihr spätestens hier genommen worden, doch ausgerechnet jetzt waren ihre Hände gebunden. Jester hatte deutlich genug gemacht, was er dem Holzvogel antun würde, sobald Elwa auch nur andeutete, Prinz Cristians Mission schaden zu wollen.

„Vielen Dank für Eure Unterstützung, Prinzessin."

Seine Stimme war völlig ruhig und glatt, der gleiche vergnügte Unterton darin mitschwingend wie bei all seinen leichtherzigen Scherzen. So sehr sie ihn hassen wollte, sie hatte zu lange nichts als Freundschaft aus diesem Tonfall herausgelesen, um jetzt mit Abneigung reagieren zu können.

„Werdet Ihr den Vogel jetzt freilassen?", gab sie eisig zurück, auch wenn sie die Antwort bereits kannte. Jester konnte sich gut um Kopf und Kragen reden, aber wenn er wollte, konnte er auch äußerst präzise sein.

Ihr tut alles, was in Eurer Macht steht, damit der Drache rasch und ohne Hindernisse besiegt werden kann, wenn dem Vogel nichts geschehen soll. Den Wanderprinzen braucht Ihr mit nichts von alledem behelligen, er wird es sicher verstehen.

„Sobald wir uns mit den fliegenden Pferden auf den Weg machen, den Drachen zu töten", sagte er schulterzuckend. „Ich würde ihn früher fliegen lassen, aber ich fürchte, dass weder Ihr noch Prinz Samir dann noch starkes Interesse daran haben werdet, den Kampf gegen ihn zu unterstützen."

Sie presste die Lippen zusammen.

„Ihr habt ihn gesehen, Lord Jester", flüsterte sie. „Er ist kein Monster. Ich wette mit Euch, wenn mir mit den Frauen sprechen ..."

„Ändert das nichts daran, was ich von Euch verlange", unterbrach er sie fest und trat näher an sie heran, sodass sie auch in der nächtlichen Dunkelheit die Einzelheiten in seinen Zügen erkennen konnte. „Vielleicht habt Ihr Recht. Es ist sogar sehr wahrscheinlich. Aber ich glaube auch, dass Ihr genauso wenig wie ich daran Interesse habt, in einen candalonischen Bürgerkrieg verwickelt zu werden. Wenn wir unsere Aufgabe erledigen und den Drachen besiegen, sind wir frei."

„Freiheit um welchen Preis?", fragte sie bitter. „Sagt mir, Lord Jester – wenn Ihr in einem Monat sicher auf Eurem Anwesen sitzt und davon hört, dass Candalonien von Dornen verschlungen wurde, werdet Ihr es bereuen?"

Er erwiderte ihren Blick.

„Das ist nur eine von vielen Möglichkeiten", sagte er ruhig. „Warum jetzt den sicheren Pfad verlassen für ein ungewisses Auskommen? Vielleicht könnten wir Menschenleben retten, aber woher wissen wir, welchen Unterschied unser Eingreifen letztendlich gemacht hat? Wir können unser Leben nicht mit den tausend anderen Möglichkeiten vergleichen, die uns andere Entscheidungen beschert hätten."

Dornen - Das Königreich in FlammenWhere stories live. Discover now