59 - Träume

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Der Drache flog, ohne anzuhalten, während sich die Frauen an seinen Rücken klammerten, überwältigt von Schock und Trauer um ihre Freundinnen. Sie hatten alle viel Platz für sich, dieses Mal, mit nur einem Bruchteil ihrer alten Zahlen und das war gut so, denn mitten im Flug war es schwer, sich um die Wunden zu kümmern, mit denen einige von ihnen zurückgekehrt waren und Fieber und Entzündungen folgten.

Asifa versuchte nicht allzu sehr darüber nachzudenken, dass sie von den übrig gebliebenen Frauen diejenige war, die mit der neuen Situation mit Abstand am besten klarkam. Sie kroch über das Geschirr und kratzte die wenigen verbliebenen Vorräte zusammen, um die anderen versorgt zu halten, zerriss übrig gebliebene Ersatzklamotten zu Verbänden und verschaffte sich einen Überblick über die Wasserflaschen, damit sie vernünftig rationieren konnte. Keiner versuchte mit ihr zu diskutieren und sie war froh darüber, die erstickten Schluchzer der anderen Frauen ertränkt im Flügelrauschen des Drachen, während sie rasch an den Wunden arbeitete. Erst, als sie bereits die erste Runde gedreht und alle verbliebenen Frauen einer gründlichen Musterung unterzogen hatte, schloss sich ihr Ria an, die ihr mit bleichem Gesicht und steifen Händen die Wasserflasche hielt, mit der sie nach bestem Vermögen die Wunden auswusch.

„Sollen wir landen?", fragte sie leise, sodass Asifa es trotz ihrer Nähe fast nicht verstehen konnte. Sie schüttelte den Kopf.

„Wenn auch nur ein Gegner des Drachen entkommen ist, wissen sie von uns", erwiderte sie grimmig. „Wir werden jede Minute brauchen, um uns auf sie vorzubereiten."

Für sie bestand daran kein Zweifel. Sie wusste nicht, ob es unter den zurückgelassenen Frauen Überlebende gab und in welcher Beziehung die fliegenden Reiter zu Prinz Cristian standen, ob dieser überlebt hatte, aber man musste über keine außerordentliche Intelligenz besitzen, um die Wahrheit über die Drachenjungfrauen zu erkennen. Mit fliegenden Pferden würden sie nicht nur die Nachricht rasch verbreiten können, sondern auch die incendischen Berge deutlich rascher erreichen als zu Fuß oder mit gewöhnlichen Pferden – sie konnten sich jetzt schon auf ihrer Spur befinden und ihnen wenig mehr als ein paar Stunden bis zum ersten Angriff lassen. Der Drache musste weiterfliegen, um jeden Preis.

Die Sonne senkte sich in Dunkelheit hinab und irgendwann schliefen die meisten der Frauen, unruhig und unterbrochen, wann immer die Bewegungen des Drachen sie im Netz zu sehr schwanken ließen, und allein Asifa wachte und versuchte, eine Strategie zu finden. Es gab zu viele Unsicherheiten, zu viele Dinge, die sie nicht sicher wusste. Sie hatten den Kampf am Berghang vor seinem Ende verlassen, aus gutem Grund zwar, aber trotzdem unbefriedigend. Wer waren die Parteien, was waren ihre Ziele und ihre Stärken und ihre Pläne? Etwas war mit den Dornen geschehen und mit Elwa, und Samir war irgendwo in der Nähe gewesen, und Luz stammte aus dem candalonischen Königshaus, das sie willentlich dem Drachen geopfert hatte ...

Wenn Asifa träumte, dann tat sie das gewöhnlich nicht mit Absicht. Am Anfang, als die Träume neu und seltsam gewesen waren, hatte sie sich gegen sie gewehrt, sie hatte Tränke für einen tieferen Schlaf genommen und ihre Nachrichten ignoriert, selbst wenn sie selten klar und eindeutig gewesen waren. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis sie sich mit ihrer Magie angefreundet hatte und sie zu schätzen lernte, aber sie hatte sich nie gänzlich in sie vergraben, sie nie aus reiner Hilflosigkeit zu sich gerufen. Magische Träume, die ihr die Antworten verrieten, waren eine Abkürzung, auf die sie sich nicht verlassen wollte. Aber jetzt waren die Träume der einzige Weg, irgendeine Klarheit zu erlangen. Wie lange würden sie fliegen, zwei volle Tage, anderthalb? Genug Zeit, um sich der Erschöpfung zu ergeben und der Magie nachzuspüren, bis sie zum ersten Mal auf Asifas Aufforderung mit ihr sprach.

Sie kletterte so weit auf dem Rücken des Drachen nach vorne, wie es das Geschirr erlaubte, fort von den anderen Frauen, flocht die Beine fest ins Netz und setzte sich dann gegen den Wind aufrecht hin, so entspannt wie möglich. Meditation war immer Samirs Spezialität gewesen, nicht ihre, aber sie hatte ihn oft genug begleitet, um seinem Beispiel folgen zu können. Die Umgebung des schnellen Fluges war nicht ideal, aber sie versuchte trotzdem ihre Gedanken zu öffnen und gehen zu lassen, willkommene Leere zu schaffen für die Magie in ihrem Innersten. Sie stellte sich Samirs ruhige Stimme vor, wie er sie anleitete.

Dornen - Das Königreich in Flammenحيث تعيش القصص. اكتشف الآن