64 - Ausbruch

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Wenn sie behauptet hätte, sie hätte die Wahrheit nicht längst gespürt, um sie herum in den Wänden pochend, zwischen den Mauerritzen hervorquellend, durch die Gänge flüsternd, dann hätte sie gelogen. Es drückte ihr schwer auf die Schläfen wie Kopfschmerzen, die sich nicht durch kühle Finger und einen winzigen Funken Magie heilen ließen und mit jedem Versuch nur schlimmer wurden.

Niemand hatte ihr gesagt, in welche Richtung sie gehen musste, aber sie fühlte es, so wie sie die Magie in ihren Adern fühlte, lauter als sonst, drängender. Als würde ihr das Blut aus dem Körper springen wollen, wenn sie seinem Ruf nicht folgte. Wenn sie sich beeilte, dann konnte sie ihre Mutter vielleicht noch retten. Dann konnte sie sich dem Drängen ergeben und würde wissen, dass es nicht zu ihrem Schaden sein würde. Zufrieden zulassen, dass der fremde Ruf in ihr die Kontrolle übernahm und ihr eigener Wille durch einen anderen ersetzt wurde, den, den sie überall um sich herum spüren konnte.

Der Wille ihres Vaters, fest verknüpft mit der Dunkelheit des Fluches. Sie wollte es nicht glauben, aber sie spürte es. Die Beweise lagen klar vor ihr. Damals, als sie noch zu klein gewesen war um zu verstehen; als ihr Vater noch nett zu ihr gewesen war, als er und ihre Mutter glücklich waren. Dann, wenig später, die ersten Streits, Worte, die Isidora nicht verstehen konnte und Diskussionen, die sie vor ihr zu verstecken suchten. Das erste Mal, das sie Magie benutzt hatte. Ihr Vater hatte gelacht und ihre Mutter war so still geworden, dass Isidora geglaubt hatte, etwas falsch gemacht zu haben. Kurz darauf war sie krank geworden, kurz darauf trug sie den Fluch in sich, kurz darauf fing ihr Vater an, kälter und barscher und abweisender zu werden, ihnen beiden gegenüber. Der Fluch war da schon nicht mehr eine gestaltlose Kraft gewesen, die sie bedrohte, sondern ein Geschwür der Dunkelheit mit der Macht ihrer Mutter und dem Geist ihres Vaters.

Isidora war sechs oder sieben Jahre alt gewesen, als er sie und ihre Mutter nach unten gebracht hatte. Sie hatte geweint, weil sie die Sonne vermisste und er hatte sie in den Schlaf gesungen, während ihre Mutter sich im nächsten Zimmer in eine Schüssel übergeben hatte, äschern im Gesicht und magische Formeln an die Wand zeichnend, wo immer sie konnte. Die Abende, an denen sie genug bei Kräften war, um Isidora zu unterrichten, waren da schon selten geworden.

Ihre Augen waren trotz allem zugefallen, erschöpft von der Veränderung, vom Weinen, von der Sorge um ihre Mutter und sie hatte fast geschlafen, als ihr Vater ihre Stirn geküsst hatte.

„Du wirst verstehen, wenn du bereit bist", hatte er gemurmelt. „Wenn du bereit bist, wird niemand es mehr wagen, sich gegen unser Haus zu stellen. Niemand wird uns wehtun können. Träume davon, wie mächtig wir sein werden, Isidora."

Es hatte zärtlich geklungen, als er das sagte, aber das war das letzte Mal gewesen. Es war auch das letzte Mal gewesen, dass er die Wahrheit über den Fluch gesagt hatte, auch wenn sie es nicht verstanden hatte. Sie hatte geglaubt, der Fluch würde ihnen wehtun wollen und das, was er und ihre Mutter getan hatten war nötig, um ihn endgültig zu vernichten. Viel zu lange hatte sie geglaubt, dass ihre Mutter litt, damit Candalonien von seinem Fluch befreit werden konnte. Sie hatte nie, nie geglaubt, dass sie mit ihr, in ihr, den Fluch nur wachsen ließ, damit sich niemand gegen ihn wehren konnte.

Isidora wusste nicht, wie der Fluch funktionierte – alles, was man ihr erzählt hatte, war eine Lüge gewesen. Aber wenn stimmte, was Willehad gesagt hatte, wenn der Fluch ihre Mutter zerstören würde, dann musste sie wenigstens versuchen, ihn vorher zu übernehmen. Ihre Mutter hatte zwanzig Jahre lang mit dem Fluch gelebt und verhindert, dass er zu stark geworden war, selbst mit König Maddeos Methoden, ihm mehr und mehr Kraft zu geben. Isidora hatte immer gehört, dass ihre Mutter die stärkere Magierin gewesen war, aber ein paar Jahre würde sie es selbst bestimmt auch schaffen.

Und wenn es ihr nicht gelang, den Fluch auf sich zu nehmen, dann wollte sie ihre Mutter vorher wenigstens noch einmal sehen.

Sie hatte nicht erwartet, dass es sie weiter nach oben ziehen würde – nicht, nachdem ihre Mutter tagelang durch die Tunnel geirrt war, nicht, nachdem der Fluch die Kerker befallen hatte und man deswegen alle bekannten Eingänge versiegelt hatte, nicht, wenn der große Ausbruch laut Willehad dort unten im geheimen Versuchskeller ihres Vaters gekommen war. Aber die Zeichen waren unmissverständlich, so unmissverständlich wie ihr die Magie gesagt hatte, Willehad und Lorelei zu vertrauen, so unmissverständlich wie die Drohungen ihres Vaters, ihre Gemächer nicht zu verlassen, ihre Pflicht nicht zu vergessen. Brav zu warten, bis ihre Mutter starb und sich dann dem Fluch zu ergeben, der die ganze Zeit nur für sie herangezüchtet worden war. Weder sie noch ihre Mutter waren gut genug für eine Krone gewesen, aber für den Fluch hatte er sie trotzdem gewollt.

Dornen - Das Königreich in FlammenWhere stories live. Discover now