68 - Ihrer Eltern Erbe

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Es hatte sich wie eine gute Idee angehört, am Anfang, die Flucht auf den Turm, als die Dornen noch langsam vorangekrochen waren und Isidora ihnen besser widerstehen konnte, je weiter sie von ihnen fortkamen. Aber sobald ihr Kopf zur Seite wegkippte, ging ein Ruck durch ihren Körper, und Willehad entfuhr ein ersticktes Keuchen, als er die gleiche Bewegung tief unter sich in den Gärten sehen konnte, als die Dornen nach vorne stießen.

„Sie muss wach bleiben", sagte er hastig zu Lorelei, die zwischen Yusuf und Isidora hin und her sprang in einem ähnlich verzweifelten Versuch, ihnen zu helfen. „Sobald sie ihr Bewusstsein verliert, ist sie anfälliger. Wie in Ilreth."

Er wollte nicht darüber nachdenken, wie viel Zeit ihnen noch blieb. Wahrscheinlich hätte er es ausrechnen können. Die Geschwindigkeit der vorankriechenden Ranken messen, die Distanz schätzen ... aber aus der Entfernung waren die Ranken nicht mehr als eine verschwommene braune Masse, eine unheilvolle Flut, die seine Augen tränen lies, sodass er kaum hinsehen konnte, geschweige denn wertvolle Beobachtungen anstellen. Stattdessen eilte er an Loreleis Seite, wo sie hektisch ein zufälliges Sammelsurium an aller Beute vor sich ausbreitete, die sie auf ihrer Flucht an sich gebracht hatte.

„Wenn ich die Fingerhutsalbe hätte, dann wäre das hier kein Problem", sagte sie grimmig, „Wir hätten den Umweg über die Krankenstation nehmen sollen."

Sie schlug Isidora kurzerhand mit der Rückseite ihrer Hand gegen die Wange, so hart, dass es laut klatschte. Isidora stöhnte leise auf und Willehad sah sie mit geweiteten Augen an.

„Du kannst sie doch nicht schlagen!", rief er entgeistert.

Lorelei verdrehte die Augen.

„Fällt dir was Besseres ein?", gab sie zurück und nahm als nächstes beide Schultern von Isidora, um sie hart zu schütteln. Dabei legte sie den Kopf schief und musterte Willehad prüfend. „Vielleicht solltest du sie küssen."

Er blinzelte überrumpelt.

„Das ist nicht lustig", sagte er dann. „Es muss irgendwo Wasser in der Nähe geben, oder?"

Lorelei sah ihn immer noch an.

„Gut", sagte sie halblaut, mit einem seltsamen Zucken um ihre Mundwinkel. „Ich bin gleich zurück."

Sie sprang auf und war durch die Tür nach unten verschwunden, bevor Willehad Zeit hatte, seine Bedenken darüber anzumelden. Die Dornen kamen näher, sie wussten nicht, ob sie längst die Außengebäude erreicht hatten, ob sie die Treppe hochgekrochen waren in den Minuten, die sie hier oben verbracht hatten. Aber er konnte Isidora jetzt nicht allein lassen und Yusuf war ebenfalls in keinem Zustand, ihr hinterherzueilen. Er schluckte schwer und begann selbst, Isidora zu schütteln, sanfter als Lorelei, weil sich ihr Körper furchtbar verletzlich unter seinen Fingern anfühlte.

„Isidora", sagte er. „Bitte. Du kannst nicht einfach aufgeben. Du weißt, was passiert, wenn sie uns erreichen ..."

Ihre Augen flatterten und sie stöhnte wieder. Unter Willehads Griff war ihre Haut warm, aber es fühlte sich nicht wie ein Fieber an.

„Ich ...", flüsterte sie, so schwach wie ein Hauch. „Er ist schon so stark ... ich fühle es, ich ..."

Sie drohte wieder schlaff zu werden und Willehad zog sie fest nach oben, damit ihr Oberkörper aufrecht blieb.

„Bleib", sagte er hilflos und konnte nur zusehen, wie ihr der Kopf wieder wegsackte.

„Kneif sie", murmelte Yusuf, nur ein paar Schritte weiter, einen Arm fest um die Wunde an seiner Seite geschlungen. Lorelei hatte ihr Bestes getan, sie abzubinden, aber das Blut sickerte bereits wieder unter seinen Fingern hindurch und Willehad wurde mit erschreckender Klarheit bewusst, dass auch ihm nicht mehr viel Zeit blieb, wenn er sich nicht ausruhen konnte und richtige Behandlung bekam.

Dornen - Das Königreich in FlammenWhere stories live. Discover now