44 - Wachsame Augen und offene Ohren

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Es gab nichts, was sich mit dem Drachenflug vergleichen ließ.

Fliegen – Asifa hätte nie gedacht, dass sie es je erleben würde, aber noch weniger hatte sie ihre eigene Atemlosigkeit erwartet, wie sich ihr Magen umdrehen würde bei dem ersten großen Satz des Drachen, wie der Ruck durch seine aufgespannten Flügel ihren ganzen Körper erschüttern würde, während sie sich an das lose Geschirr auf seinem Rücken klammerte wie die anderen. Der Wind schnitt scharf und kalt in ihr Gesicht, seine Schuppen unter ihr waren dagegen warm und sie konnte ganz schwach das Spiel seiner Muskeln spüren, wenn er sanft die Richtung wechselte. Nur Sekunden nach ihrem Start war der Kessel schon unter ihnen verschwunden gewesen, die erleuchteten Fackeln wenig mehr als wirre, rasch verglimmende Punkte.

Die Träume waren zu ihr zurückgekehrt, voll und bunt und mit aller Macht, schon bei ihrer ersten längeren Rast außerhalb des Kessels, und auch wenn es nach den Wochen des traumlosen Schlafes unmöglich war, sie alle zu entziffern, war sich Asifa zumindest sicher, dass es Sharif gut ging. Ria war nervöser als sie, bleich und zittrig, selbst als sie noch Tage davon entfernt waren, tatsächlich auf Prinz Cristian und seine Männer zu treffen und schließlich erklärte ihr Asifa seufzend, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte – dass die Träume sie warnen würden. Der Drache beobachtete sie dabei von weitem und sie hatte das unangenehme Gefühl, dass er sie mehr als alle anderen im Blick hatte. Seine Augen tauchten jedes Mal auch in den Träumen auf.

Nach dem ersten halben Tag, den sie über einen völlig verlassenen Landstrich flogen, hielten sie sich streng daran, nur über Nacht unterwegs zu sein und tagsüber zu rasten – noch konnten sie es sich nicht leisten, dass jemand ihn sah und den Norden alarmierte. Oder gar auf die Idee kam, ihn bis zu seinem Landeplatz zu verfolgen.

Das hier war ihre vierte Nacht und die Sonne war schon vor Stunden untergegangen, aber dieses Mal hatten sie keine Eile. Zum ersten Mal ließ Luz Asifa Wachrunden um ihr Lager und den Drachen drehen, statt sie dort im Auge zu behalten, natürlich in Begleitung von Reina, die muskulös und breitschultrig war, und hitzköpfig genug, dass nur eine falsche Bewegung von Asifa sie wahrscheinlich zu einem Angriff provoziert hätte. Asifa beklagte sich nicht, denn Reina war nicht geschwätzig wie einige der anderen Frauen und solange sie in ihrer Nähe blieb, sah sie auch keinen Grund, Asifa zurückzupfeifen. Ihre Runde um das Lager war deutlich größer geworden als Luz es angeordnet hatte, die Hügel dunkel und menschenleer, aber Reina hatte daran nichts zu meckern.

Etwas tun, die Augen offenhalten, das war besser als das, was ihr die letzten Tage gestattet worden war, aber Asifa hasste es dennoch, derartig zurückgehalten zu werden. Die Hälfte der Frauen war am Morgen schon aufgebrochen, um unauffällig die Lage auszukundschaften und sie wusste genau, dass sie allein effektiver gewesen wäre als sie alle zusammen, aber Luz schien zu ahnen, wie kurz sie vor einer Flucht gestanden hatte und ihr weiterhin zu misstrauen. Sie atmete tief ein, die Luft kühl und klar. Wahrscheinlich waren die meisten Späherinnen längst zurückgekehrt und hatten ihre Erkenntnisse mit Luz und den anderen geteilt, aber Asifa war nicht in der Stimmung, sich die Triumphe anderer anzuhören. Was war der Sinn dabei, sie mitzunehmen, wenn ihre Aufgaben etwas waren, das sie schon als Zehnjähre problemlos hätte vollziehen können?

Sie zwang sich dazu, die aufsteigende Bitterkeit hinunterzuschlucken. Hätte sie noch an ihrem alten Plan festgehalten, die Kämpferinnen so bald wie möglich zu verlassen, wäre ihr diese Behandlung gut genug erschienen, aber mit dem Wissen, was sie zurück erwartete, wofür sie inzwischen selbst kämpfte, war die Untätigkeit schwerer geworden. Sie versuchte, sich an ihren letzten Traum zu erinnern. Seit sie tagsüber rasteten, waren auch die Bilder darinnen heller geworden, Drachenfeuer an allem leckend, was der Schlaf ihr zeigte. Samir war in den Träumen bis jetzt nicht aufgetaucht und es beunruhigte sie, keinen Hinweis auf seinen Verbleib zu haben. Waren sie zu lange getrennt gewesen, als dass ihre Magie sich weiter um ihn kümmern würde? Hatte er sich zu weit entfernt? Oder war es gar ihre Schuld dafür, dass sie ihren Schwur ihm gegenüber für Ofelia und Sharif nicht mehr ganz so ernst nahm? Gerade die letzte Möglichkeit machte ihr mehr zu schaffen, als es ihr lieb war, aber es gab niemanden, mit dem sie darüber reden konnte. Nur das Wissen, dass sie auch kein grausiges Ende von Samir erträumt hatte, stimmte sie milde zuversichtlich, dass er noch irgendwo da draußen lebte und atmete.

Dornen - Das Königreich in FlammenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt