67 - Anfang und Quelle

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Für einen Moment waren es keine Dornenranken vor Samir, sondern Flammen, die nach und nach erloschen. Taubheit kroch in seine Glieder, er war sich nur bedingt seiner eigenen Bewegungen gewahr, als würde er schweben wie die Pferde der Bergstämme. Sie hatte nicht ... sie konnte nicht ... er verstand nicht. Er verstand so wenig in den letzten Tagen und alles was er verstand, kam zu spät.

Doch Asifa packte ihn fest am Arm und zog in vorwärts.

„Schau", sagte sie nur und deutete auf den Boden, wo die Ranken zur Seite auswichen und ihnen einen Weg frei machten. Sie eilte mehrere Schritte zwischen den Dornen nach oben, bevor sie merkte, dass Samir sich nicht rührte.

„Worauf wartest du?", fragte sie ungeduldig. „Wir wissen nicht, wie lange sie uns noch helfen kann."

„Du hast sie einfach gehen lassen", sagte er. „Sie ist ..."

„Sie wird nicht sterben", erwiderte Asifa knapp. „Sie hat das hier schon einmal getan. Mehr als einmal."

„Mehr als einmal", wiederholte er ungläubig. Am Fuß des Berges. Als sie sich aus viel zu großer Höhe hatte fallen lassen, ohne auch nur einen Hauch von Angst zu zeigen. Sie hatte ihm gesagt, dass sie den Ruf der Dornen spürte, die sich mit ihr verbinden wollten. Sie hatte nie die Gelegenheit gehabt, ihm zu sagen, dass sie diesem Ruf gefolgt war. „Wie kannst du ..."

„Träume", unterbrach sie ihn scharf. „Hast du es bereits vergessen?"

Sie drehte sich um und eilte weiter den Pfad entlang, den die Dornen sie gehen ließen, bis hoch zum Schlosseingang und hindurch. Ranken schlangen sich durch die Gänge und um die Abzweigungen, als wären sie seit Jahrzehnten ungestört gewachsen, selbst das letzte Echo von Leben aus dem kalten Stein vertrieben. Er bemerkte die Türen, an denen sich die Ranken drängten und hinter denen Menschen um Hilfe riefen, aber vor ihm eilte Asifa unbeirrt weiter, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen. Ein Monat, den er sie nicht gesehen hatte. Ein Monat, in dem sie nicht einmal zugegeben hatte – zugeben konnte – dass sie in seinem Auftrag unterwegs gewesen war. Ein Monat, indem die ruhige Selbstverständlichkeit, mit der sie Seite an Seite kämpfen konnten, eingerostet war und nur schwerlich wieder anlief, jetzt, wo die Zeit sie drängte. Sie musste von ihm geträumt haben, wahrscheinlich hatte sie auch von ihm gewusst, von allem, dem er zugestimmt hatte und was für Plänen er gefolgt war, und er hatte nichts gehabt außer die nagende Sorge, dass es zu spät war, sich zu entschuldigen.

Doch in einem hatte er sich getäuscht. Als er innehielt, merkte sie es sofort und als sie sich nach ihm umdrehte, war eine ungewohnte Sanftheit in ihrem Blick, Verständnis.

„Samir", sagte sie leise. „Sie zeigt uns den Kopf. Wir müssen ihn abschlagen."

Er blinzelte, dann nickte er. Ging einen Schritt, und hielt wieder inne. Dabei musterte er sie die ganze Zeit und fand nicht einmal den Hauch von Missbilligung in ihren Zügen, obwohl sie sonst nie versuchte, solche Gefühle vor ihm zu verstecken. Sie hatte sich verändert. Nicht viel, nur genug, dass es sofort auffiel. Das Abenteuer hinter ihnen war keines gewesen, das sie geteilt hatten und in diesem Moment schien Samir nichts wichtiger, als genau das klarzustellen, dass es in Ordnung war, für ihn, für sie, für sie beide.

„Du hast keine Pflichten mir gegenüber", sagte er. „Schon lange nicht mehr. Du musst mir nicht folgen."

Asifa lächelte schwach.

„Ich weiß", sagte sie. „Aber ich folge allem, dem du folgst."

Es waren nur wenige Worte, aber sie waren genug. Samir atmete tief ein, besann sich auf die Ruhe in seinem Inneren, zwang die Sorgen und Zweifel und Fragen fort. Er hatte sie vermisst.

Dornen - Das Königreich in FlammenWhere stories live. Discover now