42 - Puls der Dunkelheit

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Es war schwer zu beschreiben, wie frei es sich anfühlte, ohne die restliche Gruppe, ohne Prinz Cristians knappe und barsche Anweisungen im Rücken, einfach nur am Seeufer entlangzureiten. Der Vogel sauste über ihnen jubilierend durch den Himmel, wie ein Stück seiner eigenen Seele.

Jester, der schon in der ernsten Gesellschaft der Männer seinen Humor nie verloren hatte, machte den Ritt jetzt besonders kurzweilig, er erzählte Samir bereitwillig von seiner Familie und seinem Leben in Anglien, von den Reisen, die er bereits unternommen hatten, von seinen Liebschaften und den spektakulären Duellen, in denen manche von ihnen geendet hatten.

„Man muss aufpassen, in Anglien, wem man das Herz bricht", sagte er zwinkernd. „Sie sagen, durchsuche erst den Waffenschrank einer Frau, bevor du dich auf sie einlässt. Es gibt ein paar besonders rachsüchtige Exemplare, die stellen sicher, dass man nach ihnen gar kein Weib mehr beglücken kann, wenn du verstehst."

Er schüttelte sich und Samir musste grinsen.

„Ich kann es mir gut vorstellen", sagte er und schluckte den Gedanken daran herunter, was wohl geschehen wäre, wenn Elwa solch ein aufbrausender Typ gewesen wäre. Es war ein lächerlicher Gedanke, wirklich – er wollte sich nicht vorstellen, was jemand ihr antun musste, damit sie darüber in wütende Raserei verfiel, immer so bedacht, immer mitfühlend, immer verständnisvoll. Nein, wenn er sich um ihre Reaktion hätte Sorgen machen müssen, hätte er es nie so weit kommen lassen. Wenigstens in dieser Hinsicht hatte er genug Vernunft bewiesen.

„Wie sieht es bei dir aus?", fragte Jester fröhlich. „Was war die größte Furie, an die du deine Zuneigung verschwendet hast?"

Der Anglier war ein guter Reiter, er trieb sein Pferd fast beiläufig an, als wäre der Ritt nur der Hintergrund für ihre Unterhaltung. Manchmal sah er neugierig zu dem Holzvogel hoch, aber er hatte ihn noch mit keinem Wort erwähnt.

„Keine Furien", sagte Samir mit einem leisen Lachen. „Nur eine Menge ... Menschen, von denen mich der Weg wieder fortgeführt hat."

„Na dann", sagte Jester und klang ein wenig enttäuscht. Ihm gefielen solche Geschichten, von alten Liebeleien und verbotenen Schäferstündchen, er hatte die letzten Abende sogar die Soldaten dazu gekriegt, ihm einige zu erzählen.

„Aber das erste Mädchen, das ich wirklich mochte", fügte Samir rasch hinzu. „Sie habe ich geküsst, direkt nachdem ich ihren Bruder getötet habe. Danach haben wir ... nun, es hatte wohl ohnehin keine Zukunft."

Damals hatte es sich wie die Welt angefühlt, alles im Chaos seiner Flucht aus Maraldur. Nun, Flucht war übertrieben. Er fragte sich, was Yazmi, das Mädchen von damals, heute wohl tat, aber er hatte nie Reue darüber gespürt, nicht mehr umgedreht zu sein.

„Bei den krummen Gesichtserkern der anglischen Ahnen!", entfuhr es Jester anerkennend. „Das nenne ich mal einen Kampf um die Gunst eines Mädchens. Ich musste mich höchstens ein paar beschützenden Brüdern oder Väter entledigen, nachdem der Akt vollzogen war. Außer aus Selbstschutz wäre mir das wohl zu viel Aufwand gewesen."

Er schüttelte den Kopf, aber in seinen Augen funkelte es vergnügt. Samir korrigierte ihn nicht, was die wahren Einzelheiten der Vorfälle damals betraf, aber es fühlte sich auch nicht nötig an. Der Junge, der er damals gewesen war, lebte ohnehin nur noch in Geschichten weiter, genauso wie der Wanderprinz.

Jester jedenfalls war zufrieden. Das Dorf war vor ihnen bereits zu erkennen und den restlichen Weg über hielt er Samir mit seinen Geschichten gut unterhalten, wobei er glücklich mit kurzen Einwürfen und höflichen Nachfragen war. Diese Seite des Sees wölbte sich fast sofort in eine zerfurchte Hügellandschaft auf, anderen nicht unähnlich, die sie bisher durchquert hatten und das Dorf selbst lag am Hang zwischen Wasser und Felsen. Eine durchdrungene Befestigungsanlage stand etwas oberhalb der anderen Häuser, in einem Einschnitt zwischen den Hügeln. Ihr Ziel, wie Samir wusste. Es war nur eine kleine Außenstation der Armee, aber sie würden Tauben haben, um der Klippenstadt berichten zu können. Prinz Cristian hatte ihnen eine Notiz mit seinem Siegel mitgegeben, damit alles schnell vonstatten gehen würde.

Dornen - Das Königreich in FlammenWhere stories live. Discover now