Kapitel 1.1

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Es fühlte sich an, als würde ich um mein Leben laufen. Immer weiter, nur nicht stehen bleiben. Die kalten Regentropfen, die mittlerweile meine gesamte Kleidung durchnässt hatten, hinderten mich daran, mein Umfeld besser wahrnehmen zu können. Feuerrote Haarsträhnen klebten an meiner nassen Schläfe. Der Klang meiner eiligen Schritte hallte in meinen Ohren wider. Mein Hals brannte bereits und ich wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis mein Körper an den Rand seiner Grenzen kam. Ich spürte, wie sich meine einfachen Turnschuhe auf dem harten Kopfsteinpflaster abrollten und ich viel zu oft die Pfützen übersah, die sich durch den dauerhaften Regen gebildet hatten. Obwohl diese Schnitzeljagd meinem verletzten Fuß nicht sonderlich guttat, blieb mir keine andere Wahl, als vor diesem Ungetüm zu flüchten und darauf zu hoffen, dass mein Leben irgendwann einmal wieder normale Züge annehmen würde ... doch instinktiv wusste ich die Antwort darauf bereits schon.


Sieben Stunden zuvor ...

Ich hatte mir fest vorgenommen, meinen Feierabend pünktlich zu beenden, dennoch war ich mal wieder eine halbe Stunde zu spät. Die bevorstehende Standpauke meiner Zieheltern für mein Zuspätkommen konnte ich bereits in meinem Kopf klar und deutlich hören. Eine Konfrontation ließ sich nun nicht mehr vermeiden, immerhin hatte mein Bruder heute Geburtstag und für mein unangebrachtes Verhalten konnte selbst ich Verständnis zeigen, wenn Viktoria mal wieder aus ihrer gepuderten Haut fuhr.

Alan war zwar nicht mein leiblicher Bruder, dennoch war ich mit ihm aufgewachsen und fühlte mich als große Schwester irgendwie für ihn verantwortlich.

Im letzten Jahr hatte ich meine Tätigkeit als Ornithologin jedoch wirklich sehr ernst genommen und mein Privatleben leider etwas vernachlässigt. Da ich gerade in diesem Jahr von zu Hause ausgezogen war, und mich nur selten dort blicken ließ, blühte mir so oder so eine unschöne Begegnung mit meinen Zieheltern.

Viktoria war die beste Freundin meiner Mutter gewesen. Nach dem tragischen Flugzeugabsturz meiner Eltern, hatte sie sich dazu bereit erklärt, sich um meine Erziehung zu kümmern. Leider habe ich keine Erinnerungen mehr an meine leiblichen Eltern, immerhin war ich gerade erstmal sechs Monate alt, als sich dieser entsetzliche Unfall ereignete.

Ich tippte die letzten Ergebnisse des gänsegroßen Meeresvogels, dem Basstölpel, in den Rechner, bevor ich mir noch einige Unterlagen in meine ledergebundene abgetragene Umhängetasche steckte, um noch einige Informationen zu Hause in meinem Apartment aufzufrischen. Bevor es jedoch dazu kam, stattete ich meiner lieben Familie noch einen Besuch ab, um Alan zu seinem 19. Geburtstag zu gratulieren.

Ich stieß einen tiefen Seufzer aus, band mir meine rubinroten langen Haare zusammen, und hängte meinen weißen Kittel an den dafür vorgesehenen Haken an der sterilen weißen Tür. Meine Blicke schweiften im Zimmer umher. Außer einer grünen Pflanze, deren Blätter sich schon fast wieder in einen leichten Braunton verfärbten, weil ich sie mal wieder vergessen hatte zu gießen, verzierte nichts dergleichen mein Arbeitszimmer, das ich jeden Tag aufs Neue betrat.

Im selben Moment öffnete sich die Tür, die mich beinah zu Fall gebracht hätte, da ich direkt dahinter stehen geblieben war.

"Hallo Sherin. Machst du heute früher Schluss?"

Grace hatte wirklich ein Talent dafür, in genau solchen Momenten in meinem Büro aufzukreuzen. Glücklicherweise hatte ich mich direkt wieder etwas aufgefangen, sodass ich einen Sturz auf den weißen Laminatboden vermeiden konnte.

"Mein Gott Grace. Du hast mich ganz schön erschreckt."

Ich wandte ihr den Rücken zu, holte meine Ledertasche von meinem Glasschreibtisch, und wollte mich gerade von ihr verabschieden, als ich hörte, wie sie ihren Putzeimer auf den kleinen Beistelltisch knallte. Ich wandte mich zu ihr, und sah, wie ihre schokobraunen Augen auf mir ruhten, als sie die Hände in ihre mollige Statur stemmte, und protestierend mit ihrem Schmollmund vor mir stehen blieb.

"Irgendetwas stimmt mit dir nicht. Also, rück raus, was belastet dich?"

Sie schwang ihre schwarze lockige Mähne nach hinten, bis sie mich erneut musterte. Stockend atmete ich ein. Die Sätze lösten sich nur sehr schwerfällig aus meinem Mund.

"Meine Eltern."

Grace schien tatsächlich verblüfft über meine Aussage zu sein.

"Du erzählst so gut wie nie etwas über dein Privatleben", musterte sie mich für meinen Geschmack etwas zu eindringlich.

"Ich weiß, und genau das ist es, was dich nervt. Seltsamerweise kenne ich auch nicht sehr viele Details aus deinem Leben."

Ich studierte ihre Gesichtszüge und versuchte dabei irgendetwas zu erkennen, doch ich konnte nur beobachten, wie sich um ihre Mundwinkel ein leichtes Zucken bemerkbar machte. Sie hob ihre schweren Schultern in die Höhe, dabei spannte sich der grüne Putzkittel noch mehr um ihre voluminöse, speckige Oberweite.

"Du brauchst nur zu fragen Sherin, und ich erzähle dir alles über meine nicht jugendfreien Vorlieben."

Ich hielt abwehrend die Hand nach oben.

"Oh bitte nein. Das will ich gar nicht hören."

Ich schnappte mir meine Tasche und wollte gerade an ihr vorbeiziehen, doch sie stand wie ein Amboss vor mir ohne Anzeichen darauf, den Weg frei zu machen.

"Nun sag schon. Was ist mit deinen Eltern?"

Ich hatte das Gefühl, sie würde nicht lockerlassen, bis ich es ihr erzählt hatte. Ein schwerer Atem entglitt meiner Kehle. Ich fuhr mir durch mein feuerrotes zusammengebundenes Haar, bevor ich ihr wieder in die schokobraunen Augen blickte.

"Heute ist der Geburtstag von Alan, meinem Bruder, und irgendwie musste ich auch gleichzeitig an meine Eltern denken."

"Was ist so schlimm daran?"

Hört sich ihre Stimme tatsächlich verzerrt an, oder leide ich nun auch noch unter Wahnvorstellungen?

"Meine Eltern sind vor fast 24 Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen."

Mein Blick war zu Boden gerichtet, als mich erneut eine Welle der Trauer überkam.

"Ist das so?"

Dieser schadenfreudige Klang in ihrer Stimme gefiel mir ganz und gar nicht und sorgte dafür, dass ich überrascht aufblickte. Gleichzeitig durchzuckte mich ein so dermaßen kalter Schauer, dass ich nicht glauben wollte, was meine Augen dort vor mir preisgaben. Mein Herz fing an, Adrenalin in meine Venen zu pumpen. Ich wagte weder einen Schritt zu gehen, noch zu sprechen.

Diese entstellte Fratze hatte nichts mehr mit dem Gesicht von Grace gemein. Ein schiefes Grinsen legte sich auf ein mir unbekanntes Antlitz. Dennoch wandte sie den Blick nicht von mir ab. Als sie schließlich bemerkte, wie ich sie anstarrte, wusste sie womöglich, was ich dort vor mir sah, und somit beendete sie ihr schäbiges Grinsen. Doch ihr verzerrtes Bild blieb weiterhin bestehen. Der Mund hing schräg nach unten, als wäre eine ihrer Gesichtshälften gelähmt. Ihre Haut war so weiß und blass, dass man annehmen konnte, sie wäre nicht mehr am Leben. Brandnarben verunstalteten ihr Gesicht, und die übrige, viel zu lang gezogene überdehnte Haut, bedeckte beinah ihr rechtes Auge.

Es war gerade so, als hätte sie genau auf diesen Moment der Enthüllung gewartet. Dieser Augenblick, der für den Bruchteil einer Sekunde mein gesamtes Leben veränderte ...


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So, hier ein komplett neuer Anfang. Wundert euch nicht, wenn nun die Kommentare nicht mehr stimmen, aber ich wollte sie ungern löschen ....

Hoffe es gefällt soweit ; )

Natürlich freue ich mich über jedes neue Kommi : ))

BLACK FEATHER (Wird überarbeitet)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt