Kapitel 11.2

745 49 5
                                    

Es dauerte einige Zeit, bis ich die Orientierung wiederfand. Ich stand draußen auf einer einfachen Feldstraße, die zu dieser Zeit mit Pferden und Kutschen befahren wurde. Das Wort Auto schien allen noch vollkommen fremd zu sein.

"Du weißt, was ich dir gesagt habe?", klang hinter meinem Rücken eine mir bekannte Stimme.

Ich drehte mich um und war nun stiller Beobachter einer unheimlich rührenden Szene zwischen einem kleinen Mädchen und einem sehr vornehm gekleideten Herrn. Lange lockige braune Haare schlängelten sich über die zierlichen Schultern des Mädchens, das solch ein unschuldiges Gesicht offenbarte, wie das eines goldigen Püppchens. Das weiße elegante Kleid, rundeten das verzückte Aussehen der Kleinen zu einem perfekten Bild ab.

"Ja Papa, ich weiß. Das hast du mir bereits schon tausend Mal erklärt."

Beide wiederholten die Worte nun noch einmal zusammen.

"Immer geradeaus gehen, bis zur nächsten Abzweigung, dann rechts und in den nächsten einhundert Metern wird Karl auf mich / dich warten."

"Sehr gut."

"Papa, ich bin kein kleines Kind mehr."

"Du bist gerade mal 12 Jahre alt. Hätte ich nicht diesen wichtigen Termin heute Morgen, dann würde ich dich begleiten, aber es geht nun mal nicht anders."

Liebevoll gab er ihr einen Kuss auf die Stirn und schenkte ihr noch eine letzte herzhafte Umarmung, bevor er sie wieder ansah und mir beinah das Herz in die Hose rutschte. Ich hatte diesen Mann nicht auf Anhieb erkannt, weil alles, wirklich alles anders an ihm aussah. Einzig die Stimme und seine verschiedenfarbigen Augen waren es, die ihn verrieten. Leventes langes Haar war gepflegt zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Eine beige Hose und ein weißes Hemd umhüllten seinen stämmigen Körper. Auch seine rechte Gesichtshälfte zierte kein einziges Tattoo. Es war gerade so, als ob er ein völlig anderer Mensch gewesen war.

Der Strudel der Zeit riss mich erneut aus Leventes Erinnerung hinaus, die ich so gerne noch zu Ende gesehen hätte. Wie durch einen Tornado wurde ich hin und her geschleudert, bis ich schließlich vor Leventes Füßen aufschlug. Der Boden des Trainingsraumes hatte mich fast komplett verspeist, wäre ich nicht ruckartig nach oben gefahren. Erwartungsvoll blickte mir Levente entgegen. Von seinem liebevollen Anblick, den er damals seiner Tochter geschenkt hatte, war nichts mehr zu sehen.

"Und? Was hast du gesehen?"

Ich zögerte einen Moment, bevor ich anfing ihm alles zu erzählen. Ich freute mich auf Leventes Lächeln, wenn ich von seiner hübschen Tochter erzählen würde, doch stattdessen verfinsterte sich seine Miene nur noch mehr und er umklammerte seine Messer viel zu intensiv, dass es mir Angst einjagte. Nachdem ich ihm alles mitgeteilt hatte, sagte er einige Minuten, die mir vorkamen als wären es Stunden, gar nichts. Seine Kiefer malmten aufeinander, als er schließlich das Wort ergriff und mir feindselig mit seinen eiskalten Augen entgegenblickte.

"Du bist tatsächlich in die Vergangenheit gereist und hast es geschafft diesen schmerzhaften Moment wieder in meine Erinnerung zu rufen."

Ich spürte, wie sein Zorn von ihm Besitz nahm. Es würde nicht mehr allzu lange dauern, bis seine innere Bombe in tausend Teile zersprang. Irgendwie jagte er mir Angst ein, mit dieser schmerzverzerrten Visage, die er kaum imstande war, zu verbergen.

"Was hast du vor?", kam es viel zu unsicher über meine Lippen, was womöglich die Panik in meiner Stimme längst verriet.

"Du hast dafür gesorgt, dass ich mich wieder daran erinnere! Das ist Grund genug dir eine Lektion zu erteilen!", schrie er mich hysterisch an, und ich zweifelte ehrlich an Leventes Verstand.

BLACK FEATHER (Wird überarbeitet)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt