Kapitel 4 - Teil 1

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Ich wachte auf und die Sonne schien durch das riesige Panoramafenster in mein Zimmer.
Draußen sah ich die Skyline einer Großstadt. Welche es war, konnte ich nicht erkennen.
Verschlafen drehte ich mich auf die andere Seite und kuschelte mich mehr in die weichen weißen Kissen.
Doch einen Moment später schaltete mein Gehirn.
Warte was? Seit wann hatte mein Zimmer ein Panorama Fenster?
Ruckartig richtete ich mich auf.
Mein Blick fiel wieder nach draußen.
Wo war ich?
Und wie bin ich hier hergekommen?
Möglichst schnell sprang ich aus dem Bett und wollte direkt nach draußen laufen.
Doch bevor ich die Tür öffnete viel mir auf, dass ich nur ein weißes, viel zu großes T-Shirt anhatte. Verwundert schaute ich mich um, auf der Suche nach einem Hinweis, wem das T-Shirt gehören könnte. Doch das lichtdurchflutete Zimmer war makellos aufgeräumt, abgesehen von dem Bett natürlich.
Was war passiert? Ich konnte mich nicht erinnern, wie ich hier hergekommen war. Angestrengt dachte ich nach, allerdings war alles wie weggeblasen. Ich hatte Geburtstag und meine Freunde hatten mich Zuhause überrascht und dann... und dann... fieberhaft überlegte ich, was geschehen war, doch ich konnte mich einfach nicht erinnern.
Nach einer Weile gab ich es auf und durchsuchte stattdessen das Zimmer, in der Hoffnung einen Hinweis oder etwas zum Anziehen zu finden. Tatsächlich wurde ich bei der zweiten Tür fündig, hinter dieser verbarg sich ein komplettes, weiß gestrichenes Ankleidezimmer.
Ich öffnete verschiedene Schubladen, sie alle waren randvoll mit Kleidungsstücken.
Die Sachen darin entsprachen aber eigentlich überhaupt nicht meinem Stil, sondern sahen aus wie von meiner Schwester persönlich ausgewählt.
Lina wäre regelrecht wütend geworden, dass hier so viele unbenutzte Markenklamotten hingen.
Das war auch der Hauptkonflikt zwischen meiner besten Freundin und meiner Schwester. Der Konsum.
Doch jetzt hatte ich nicht die Zeit darüber nachzudenken.
Kurz entschlossen schnappte ich mir eine einfache schwarze Hose und einen himmelblauen Pullover.
Normalerweise trug ich immer Sachen, die mir zwei Nummern zu groß waren, aber dafür gemütlich. Umso überraschter war ich, dass ich mich auch in dem relativ enganliegenden Oberteil wohlfühlte. Ebenso wie die Hose war es schmal geschnitten und wäre wahrscheinlich nie in meinem Schrank gelandet.
Wehmütig dachte ich einen Moment an meine Boyfriendhosen, die ich beinah jeden Tag trug.
Hatte ich mein Handy irgendwo? Nein natürlich nicht.
Auf einmal fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Die U-Bahn. Die Massenpanik. Der Typ, der mich verfolgte.
Was war mit Lina und Julien? Ging es ihnen gut?
Unruhig lief ich im Zimmer auf und ab. Hatte der Typ mit den eiskalten blauen Augen etwas damit zu tun?
Ich musste hier raus, auf irgendeine Weise.
Das Sinnvollste war vermutlich einen Ausgang aus diesem Gebäude zu finden.
Vorsichtig öffnete ich die weiße Holztür des Zimmers und lugte auf den Gang.
Rote Teppiche, mit einem Muster aus burgunderfarbenen Dreiecken bedeckten den Boden. Die Wände waren in einem schlichten cremeton gehalten, was den Gang sehr edel, gleichzeitig aber auch modern wirken ließ.
Ein weiteres Mal fragte ich mich, wo genau ich gelandet war.
Darauf bedacht keinen Lärm zu machen, schlüpfte ich aus dem Zimmer und zog die Tür hinter mir zu.
Ich musste ein Telefon finden und Lina anrufen oder Julien. Einen von beiden. Ich musste mich einfach vergewissern, dass es ihnen gut ging.
Auf leisen Sohlen schlich ich durch den Flur zu dem Aufzug, den ich erspäht hatte.
Dort angekommen, drückte ich auf den untersten Knopf, den mit der Aufschrift Erdgeschoss.
Allerdings passierte herzlich wenig, außer, dass sich die Fahrstuhltüren schlossen, und ich allein im Fahrstuhl stand.
Beinah panisch drückte ich auf den unterschiedlichsten Knöpfen herum. Wieder nichts.
„Jetzt mach schon du blödes Ding", keifte ich den Fahrstuhl an, was allerdings wenig Sinn ergab.
Zu meinem Glück öffnete sich die Tür des Fahrstuhls und ein Mann, in einen vornehmen Anzug gekleidet, trat in den Fahrstuhl. Daraufhin erschienen Knöpfe. Diese beachtete er allerdings nicht. Er drückte einfach auf Erdgeschoss und der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung.
Verwundert schaute ich ihn an und blickte dann wieder auf die Knöpfe, die mittlerweile wieder verschwunden waren. Unwillkürlich fragte ich mich, was ich falsch gemacht hatte.
Der Mann beachtete mich überhaupt nicht, schien mich nicht einmal wahr zu nehmen.
Unten angekommen, lächelte ich dem Mann freundlich zu und ließ ihn zuerst aus dem Fahrstuhl, auch das nahm er nicht zur Kenntnis. Die Höflichkeit war anscheinend vollständig an ihm vorbeigegangen.
Ich schaute mich ehrfürchtig um. Alles sah sehr edel aus, und der Weg zum Fahrstuhl, und zu den Treppen war mit langen, roten Teppichen ausgelegt. Ich legte mir sofort eine Strategie zurecht und ging selbstbewusst zu der Dame am Empfang.
,,Entschuldigen sie" sprach ich sie an und setzte ein gewinnendes Lächeln auf, eines dieser Lächeln, die meine Familie benutzten, um Eindruck zu schinden.
Hach, wie froh war ich in solchen Momenten, dass ich mit zwei Sprachen aufgewachsen war. Sie schaute mich freundlich an.
,,Könnten Sie mir sagen, wo ich ein Telefon finde?", fragte ich und ließ meinen Blick durch den Saal schweifen, gerade so, als würde ich ihn nur kurz überblicken.
"Aber natürlich", meinte sie lächelnd, ,,Sie müssen lediglich dreihundert Meter nach links gehen, und schon finden sie eine Telefonzelle,"
„Vielen Dank" antwortete ich und lächelte ein letztes Mal, bevor ich aus dem Gebäude schlenderte, in dessen Empfangshalle mir niemand Beachtung schenkte.
Als ich jedoch davor stand blieb mir erstmal der Mund offen stehen.
Das Gebäude befand sich direkt am Times Square und hier waren so viele Leute.
New York. Als ich das letzte Mal hier war, war ich nicht allein Unterwegs, sondern hatte meine Familie bei mir.
Verdammt, ich war komplett allein, ohne Geld auf einem anderen Kontinent.
Ich drehte mich erstmal um mich selbst und betrachtete dann das Hochhaus von außen.
Es war ein Disneyshop! Aber ich hätte schwören können, dass ich in einer Empfangshalle war. Was war denn bitte hier los? Wieso war das ein Disneyshop? Und wie komme ich später zurück?
Dieser Ort war mein einziger Anhaltspunkt.
Mittlerweile verfluchte ich die Idee, ein Telefon zu suchen, aber eine Wahl hatte ich jetzt nicht mehr, außer ich wollte mich mit Kuscheltieren herumschlagen. Denn wie ich zurückkommen würde, wusste ich immer noch nicht.
Ich ahnte schon, dass ich mich hier verlaufen werde. Entschlossen machte ich mich dennoch auf die Suche nach besagtem Telefon.

Hüter der HimmelsrichtungenWhere stories live. Discover now