Kyle

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„Sie haben es dir erzählt oder?", wollte ich wissen und musterte die schmale Gestalt, die sich neben mich gestellt hatte.
Auch wenn ich ihr Gesicht nicht sah, erkannte ich Claire an ihren langen schwarzen Haaren, die ihr ins Gesicht hingen.
„Nicht alles, nur dass er...", sie fing an nach Worten zu suchen, doch ich wusste bereits, auf was sie hinaus wollte, „gestorben ist", beendete ich schließlich meinen Satz.

Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, bei dem Gedanken an meinen kleinen Bruder.
Ich wandte meinen Blick von den Sternen ab und musterte Claire, die gedankenverloren auf die Straße schaute.
„Er war sechs, Claire. Sechs Jahre alt. Zu jung um zu sterben."

Sie schwieg, verlor sich in ihren eigenen Gedanken. Ich schluckte, als ich daran dachte, was damals geschehen war.
„Er starb für mich", brachte ich heraus und senkte meinen Blick. Betroffen schaute sie mich an. Sie schien nicht zu wissen, wie sie mit dieser Nachricht umgehen sollte.

Ich wusste es selbst nicht.

Damals, es war ein Angriff auf unsere Familie gewesen. Ausgehend von Praelictas. Ich wusste nicht, wer diesen Angriff angeordnet hatte, wer die Praelictas auf mich angesetzt hatte. Dass sie mich umbringen sollten war kein Wunder, schließlich war ich ein Hüter und kämpfte gegen das Chaos.

Eines Nachts waren sie einfach in meinem Zimmer aufgetaucht, mein Bruder schlief in dieser Nacht bei mir. Wir machten das oft. Meist baute er dann eine Höhle und wir schliefen unter den Decken.
Es war die Nacht, nach der ich offiziell meine Kräfte bekommen hatte.

Mein Bruder hatte sich vor mich geworfen, als der Praelictas das Messer schleuderte, hatte mir Zeit gegeben zu reagieren, doch meine Kräfte waren noch unkontrollierbar für mich. Nur meine Kampfausbildung, die ich erhalten hatte, konnte mich in diesem Moment retten.

Mich. Nicht meinen Bruder, der mir Zeit verschafft hatte.

Ich schluckte und blinzelte hastig. Vertrieb die Gedanken an jene schicksalshafte Nacht.
Claire griff nach meiner Hand und drückte sie leicht. Dankbar schaute ich sie an und nahm ihre Hand in Meine.
Ihre Wärme verursachte ein wohles Gefühl bei mir.

Ich war es mittlerweile gewohnt, meine Körpertemperatur herunter zu kühlen, sodass mir nicht einmal die sengende Hitze Ägyptens etwas ausmachte. Doch ihre Wärme spürte ich ganz deutlich.

„Es tut mir leid für dich", brachte sie mit brüchiger Stimme heraus.
„Was ist mit deinen Eltern?", wollte sie nach einer Weile wissen, da ich nichts erwiderte.
Meine Hand verkrampfte sich und ich musste erstmal meine Gedanken sortieren

Der Gedanke an meine Eltern verursachte mir ein eigenartiges Gefühl. Ähnlich dem Gefühl der Kälte, die mich seit zwei Jahren begleitete, intensiver als zuvor.

Bevor ich zum Reden ansetzte, holte ich erstmal tief Luft und lockerte den Griff um Claires Hand.
Doch ich war noch nicht bereit sie loszulassen. Sie, die einzige Person, die mir Halt gab und so verschränkte ich nur unsere Finger miteinander.

„Meine Mutter ist nie wirklich darüber hinweg gekommen und seitdem sehr viel Unterwegs, aber wenn sie mal da ist, dann ... ist es sehr schön und sie ist dann auch eine richtige Mutter für mich, im Gegensatz zu meinem Vater, der kaum noch mit mir spricht."

Ich glaube mein Vater gab mir die Schuld daran. Ich konnte ihn verstehen. Ich tat es ja selbst. Doch es war trotzdem hart, die vernichtenden und enttäuschten Blicke von ihm zu spüren, jedes Mal, wenn er mich begrüßte.
Jedes mal erinnerte er mich an diese Schuld, genauso, wie ich meine Mutter an meinen Bruder erinnerte.

Er war das genaue Abbild von mir, mit seinen blauen Augen und den schwarzen Haaren, die ihm jedoch immer verstrubbelt in die Stirn fielen.
Ich sah es in ihren Augen, jedes Mal, wenn sie mich ansah, immer wenn sie mit mir sprach.

Sie sprach nicht nur mit mir, sondern auch mit ihm und das war schlimmer als die Blicke meines Vaters.

„Wie, wie hast du es geschafft trotzdem weiter zu machen?", riss Claire mich aus meinen Gedanken. Wie ich es geschafft hatte? Keine Ahnung. An dem Psychologen, zu dem meine Mutter mich gebracht hatte, lag es jedenfalls nicht.
Ich glaube, sie brauchte das damals und hat mich nur als Vorwand genutzt.

Doch damit konnte ich leben.

„Ich habe weitergelebt. Für ihn", erklärte ich. In der Anfangszeit fiel es mir schwer, das zu akzeptieren. Aber wenn ich mich aufgab, dann war sein Opfer verschwendet und das würde ich niemals zulassen.
Denn mehr blieb mir nicht von ihm.

Eine kühle, ja beinahe frische Windböe kam auf und ich hüllte Claire auch in meinen Schutzschild aus Wärme und Geborgenheit. Irgendwann würde ich es ihr beibringen, so wie ich es mir bereits vorgenommen habe.
Für diesen Moment, in dem ich mit Claire auf der Dachterrasse stand, fühlte ich mich zum ersten Mal frei.

Auch wenn meine Schuld nicht vergehen würde, so tat es doch gut mich Claire anzuvertrauen.

Ich drehte mich zu ihr und blickte ihr direkt in die braunen Augen.
Musterte ihr schönes Gesicht und fragte mich wieder einmal, womit ich es verdient hatte, dass sie neben mir stand und sich für mich interessierte.

Auch sie musterte mich eingehend, so als würde sie auf den Grund meiner Seele sehen wollen und zum ersten Mal seit zwei Jahren fühlte ich mich sicher.
Ich hob eine Hand und strich ihr damit die Haare vorsichtig aus dem Gesicht und schaute ihr direkt in die Augen, während ich eine Strähne vorsichtig hinter ihr Ohr festklemmte.

Bei dieser Berührung kribbelten meine Fingerspitzen.
Als Claire mich anlächelte, wusste ich wieder, was es bedeutete glücklich zu sein. Denn in diesem Moment war ich glücklich. Hier. Mit Ihr. Auf der Dachterrasse.

Hüter der HimmelsrichtungenWhere stories live. Discover now