#85 Beethoven war nicht taub

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Wer Bock hat, kann beim Lesen Drake hören. Hab ich beim Schreiben auch gemacht und das läuft auch im Kapitel die ganze Zeit.

Berlin, 19. November 2020
Perspektive Thomas "Tommi" Schmitt

Eigentlich sollte es ein Arbeitstag werden.
Felix und ich haben uns nach dem Frühstück ausgemacht, dass wir beide ersteinmal an unseren Laptops arbeiten und uns in Ruhe lassen. Ich am Tisch, weil ich so besser arbeiten kann, er auf dem Sofa mit dem Gerät auf dem Schoß, weil er so besser arbeiten kann. Über die Anlage im Wohnzimmer läuft Musik von Drake.
Zum Nachteil meiner Projekte sehe ich meinen Freund immer im peripheren Blick, wie er sein breites Kreuz gegen die Couch drückt, sich seine Muskeln an den Unterarmen sichtbar bewegen, wenn er tippt, wie er sich auf die Lippe beißt, wenn er nachdenkt. Den Kopf nickt und wippt er passend zu Musik, scheint sich beinahe darin zu verlieren. Es ist eine solche Phase, die er mit der Musik des kanadischen Künstlers öfter hat.
Konzentrieren auf meine Arbeit kann ich mich nicht wirklich, eher stelle ich mir vor, dass er dieses T-Shirt nicht trägt. Es ist immerhin warm genug in der Wohnung, das sollte kein Problem sein.
Verträumt versinkt mein Blick an seinem Hinterkopf, ich schaue verlegen zu ihm, als säßen wir in einem Café und ich wäre zu schüchtern, um ihn anzusprechen.

Jetzt ist es zwölf Uhr und ich finde, dass ich mir eine Pause gönnen sollte. Und er sich auch.
Noch zwei Sätze schreibe ich in das Dokument, speichere sicherheitshalber und stehe dann auf, strecke mich kurz geräuschvoll und laufe von hinten an das Sofa heran.
Von einem Kuss auf die Schläfe begleitet lehne ich mich hinunter und lege die Arme um seinen Oberkörper, den Kopf danach auf seine rechte Schulter und küsse seinen Hals ab. Sinnlich fahre ich mit den Händen über seine Brust und zum Bauch hinab.
"Ey, hör mal auf, mich zu befummeln, ja." mahnt er lachend. "Ich versuche zu arbeiten."

"Jaja." erwidere ich und stupse mit meiner Nase sein Ohr an, stelle das Kinn auf seine Schulter, sodass ich seinen Laptopbildschirm sehen kann.
"Was machst du genau?" will ich wissen und erkenne jetzt erst, dass er sich auf einer Website für Friedhofstechnik befindet. Fragend runzle ich die Stirn und streichle mit der rechten Hand über seinen Oberarm.
"Ich hab' 'nen Plan. Ich will 'nen Grabkerzenautomat an den Friedhof spenden, wo meine Mutter liegt. Ich war jetzt schon auf zehn Websiten oder so, aber hier steht nirgends ein Preis. Obwohl der mir eigentlich auch egal ist."
Er geht in seinem Browserverlauf zurück und öffnet eine weitere Seite, die er bereits besucht hat, scrollt nach unten.
"Den meisten hab' ich jetzt schon 'ne E-Mail geschrieben. Mal schauen, ob da was kommt. Und der Friedhofsverwaltung auch."
Ich gehe in die Hocke, sodass ich mehr auf seiner Kopfhöhe bin und meinem Rücken entlaste. Felix lässt seinen Kopf gegen meinen fallen, seufzt und fährt sich mit den Händen über das Gesicht.
"Manchmal will ich damit abschließen, weil ich denke, dass es mir dann besser geht. Aber irgendwie kann ich nicht. Ich kann nicht mit meiner Mutter abschließen. Sie ist meine Mutter. Egal, ob sie tot ist oder nicht."
"Ich glaube, du tust das Richtige, wenn du nach deinem Bauchgefühl gehst. Und wenn ich dir irgendwie helfen kann, sag bitte Bescheid." sage ich und streichle seinen Hals.
Felix nickt.
Ich habe so unendlichen Respekt davor, wie er mit dem Sachverhalt umgeht. Auch, wenn es vielleicht nicht immer der beste Weg ist. Aber ich hätte es nicht besser machen können.

"Es ist bald Totensonntag. Bis dahin wollte ich den ganzen Mist eigentlich geregelt haben. Hinfahren, das irgendnem Ingo dort übergeben, allein sein mit ihr und dann...zurück zu Fränki." erklärt er und schaut mich demotiviert an.
"Man alter, ich hoffe einfach, dass das funktioniert. "
Genervt klappt er seinen Laptop zu und legt ihn seufzend zur Seite.
"Hast du 'ne Handynummer angegeben?" frage ich dann, um sicher zu gehen. Er nickt.
"Wenn ich bei meinem Vater bin, will ich es ihm auf jeden Fall sagen."
Ich schaue fragend.
"Das mit uns. Komm mal her." sagt er und zieht an meinem Arm. Ich laufe um das Sofa herum und setze mich auf seinen Schoß, lehne den Kopf an ihn und schließe die Augen.
"Sicher?"
"Ja. Er wird kein Problem damit haben, wirklich nicht."
Er streicht über meine Stirn und durch meine Haare.
"Ich werde nochmal mit Julian reden. Hab' das mit ihm schonmal durchgesprochen, evaluiert. Wir wollten gleich auch nochmal telefonieren. Oder er kommt vorbei. Mach dir keine Sorgen."
Ich nicke beipflichtend, bin trotzdem irgendwie aufgeregt.

Perspektive Felix Manuel Lobrecht

Ungefähr eine halbe Stunde später mache ich meinem Bruder die Tür auf und begrüße ihn mit einer Stimmung, die immernoch bedrückt ist. Wir umarmen uns kurz, anstatt mir auf den Rücken zu klopfen, streichelt er darüber. Er weiß genau, wie es mir geht. Als er bereits im Flur die Drake-Musik hört, weiß er sofort bescheid und lächelt wissentlich. Manchmal fasziniert mich Geschwisterliebe auch als Beteiligter.
Im Wohnzimmer begrüßt er kurz meinen Freund, ehe er sich uns gegenüber auf den Sessel setzt. Tommi sitzt am linken Rand der Couch, ich lege meinen Kopf seitlich auf seinen Schoß und strecke meinen Körper über die gesamte Breite des Möbelstücks. Tommi legt seine Hand auf meinen Kopf und streichelt regelmäßig darüber, während wir gemeinsam die nächsten Tage planen. Ich will beide nicht ausschließen. Sie spielen sehr wichtige Rollen in meinem Leben.

"Also, ich glaube wirklich, dass Papa kein Problem damt hat. Er wollte schon immer nur, dass wir alle glücklich sind. Sophie, du und ich. Schon immer. Egal, wie." sagt Julian, nachdem er einen Schluck aus dem Glas Wasser genommen hat, das er sich geholt hat.
"Totensonntag ist am 22. Das ist in drei Tagen. Ich hoffe, dass sich irgendeine Firma bis dahin gemeldet hat." füge ich hinzu. Den Rest meines Vorhabens kennt er.

"Hast du schonmal Andeutungen gemacht Papa gegenüber?" fragt Julian vorsichtig.
"Ich meine, ihr telefoniert ja jeden Tag und auch voll oft über Facetime, ist da Tommi nicht mal im Hintergrund mit rumgesprungen oder so?"
"Hm, ja, schon. Aber wir haben nie darüber geredet. Beziehungsweise hat es ihn eigentlich nicht interessiert, warum und wie lang und wie oft Tommi da ist. Er vermutet sowas bestimmt nicht."
Mein Bruder nickt und reibt sich nachdenklich die Hände.
"Also, du willst am Sonntag dann also zum Friedhof, irgendwie den Automaten übergeben, nochmal an ihr Grab, zurück nach Berlin fahren und dich bei Papa outen?" will er sichergehen. Ich kratze mich an der Schläfe und nicke dann bestätigend. "Ja."
"Und Tommi? Soll er mitkommen?"
"Zu Fränki auf jeden Fall. Ich hab' auch nichts dagegen, wenn er dabei ist, wie ich vor'm Grab unserer Mutter heule."
Ich beiße mir auf die Unterlippe.
"Aber ich weiß nicht, wenn das irgendwie mit Bürgermeister oder so ist, will ich nicht, dass die von mir das Schwulen-Klischee haben."
Mein Bruder und mein Freund nicken. Vor diesem Moment habe ich Angst, seit ich weiß, dass ich auch auf Männer stehe: Vorurteile. Dass ich mich verstecken oder verstellen muss, um nicht von ihnen betroffen zu sein.

"Aber wie willst du das logistisch machen?" fragt Julian dann und sieht mich an. An den tiefen Falten an seiner Stirn, die er eindeutig von unserem Vater geerbt hat, sehe ich, wie es dahinter rattert.
"Ach, man, ich weiß es nicht. Ich weiß nicht mal, ob das mit dem scheiß Grabkerzenautomat überhaupt klappt. Vielleicht sag' ich auch 'nen halben Tag vorher ab oder so."
Ich verstecke mein Gesicht an Tommis Bauch und ziehe die Beine an, will eigentlich gerade gar nicht darüber nachdenken. Aber ich kann dem nicht aus dem Weg gehen, das weiß ich. Wenigstens bietet mir mein Freund Zuflucht. Und ich muss mich nicht schämen, sie vor meinem Bruder zu suchen.

Auf einmal ertönt mein Klingelton vom Handy, kerzengerade richte ich mich auf, ergreife das Gerät und hebe ab.
"Lobrecht?"
Ich muss grinsen. Es ist ein Vertreter der Grabkerzenautomatfirma.
Die Sache ist schneller geregelt als ich mir überhaupt bildlich vorstellen kann, wie man so ein Ding überhaupt liefert.
Eine Spedition wird den Automaten extra am Sonntag bringen, der Preis ist ebenfalls geringer als gedacht.
Alles, was ich sage, ist "Ja.", "Perfekt." und "Vielen Dank.".
Grinsend lege ich auf und gebe meinem Freund einen kurzen Kuss.
"Geil, alter." rufe ich aus und sehe mit glänzenden Augen zu meinem Bruder. Dieser freut sich mindestens genauso sehr.
"Jetzt ruf' ich noch bei der Friedhofsverwaltung an, hoffe, dass die auf'n Donnestag Nachmittag noch rangehen, setz' denen das vor die Nase und die sollen sehen, was sie fertig kriegen." beschließe ich und wähle die Nummer, die ich ausnahmsweise bereits in meine Kontakte eingespeichert habe.
"Weißt du was, ich bleibe dann einfach im Auto, wenn du das übergibst oder so. Mir egal, wie lang das dauert. Und wenn was ist, kannst du mich jederzeit anrufen." schlägt Tommi vor und ich nicke dankbar für seine Aufopferung.

Als ich mit dem zweiten Telefonat fertig bin, lasse ich meinen Kopf wieder in Tommis Schoß fallen und sehe ihm in die Augen. "Ich hab' grad auf meinem Handy gesehen, dass heute der 19. November ist."
Er nickt selbstverständlich, als wisse er nicht, auf welche Besonderheit ich hinaus will.
"Heute vor elf Monaten warst du hier und wir waren auf diesem komischen Hippie-Weihnachtsmarkt."
"Stimmt." sagt er. Gemischte Gefühle schleichen sich ein.
"Krass. Ich hätte nicht gedacht, dass wir von Blödeleien wie "Beethoven war nicht taub" zu dem hier kommen würden."
"Ich auch nicht. Aber ich find's auch nicht schlimm, um ehrlich zu sein."
"Ich bin glücklich."
Ich lächle, Tommi lächelt, Julian lächelt.
Ja, diese Aussage stimmt. So schnell gebe ich mein aktuelles Leben nicht her.

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