#45 Livehack

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Perspektive Julian Lobrecht

"Ich gehe davon aus, dass du nicht so dement bist und noch von der Schlägerei weißt."
Ohne eine Antwort oder ein Nicken, das ich eh nicht sehen kann, abzuwarten, rede ich weiter.
"Ich will dir keine Vorwürfe machen,Tommi. Aber du weißt auch, wie viel Felix abbekommen hat. Und, wie scheiße es ihm ging."
"J-ja. Ich war dabei."
"Weißt du, was er getan hat, nachdem ihr los seid?"
"Nein. Gehe davon aus, dass er sich wieder hingelegt hat. Er sah ziemlich fertig aus."
"Und genau das ist er auch. Er schläft tatsächlich. Nur sitze ich gerade neben seinem Krankenhausbett."

Eine ungläubige Stille von Tommis Seite durchschneidet meine Überlegungen für den nächsten Satz.
"Julian?"
"Ja?"
"Wie geht es ihm?"
"Nicht gut. Man, verdammt, es geht ihm beschissen. 
Vorhin wurde er operiert und das wird für heute nicht die Letzte bleiben. Als er zu mir gekommen ist, war er total von der Rolle. Ich kann es nicht mal beschreiben, so scheiße sah er aus. "
"Seit wann ist er bei dir?"
"Keine Ahnung, um 12 vielleicht?"

Einige ratlose Sekunden hallen leise durch die Geräte, von meiner Seite nur untermalt von Felix' monotonem, nasalen Atmen.
"Wir sind aber schon halb 10 los..."
An seinem Ton kann ich erkennen, dass Tommi noch etwas sagen möchte, ich komme ihm jedoch mit Absicht zuvor:
"Er hat sich mit Einer aus dem Internet getroffen irgendwie. Der Sex, den sie hatten, hat ihm körperlich den Rest gegeben."
"Oh."
Nichts als ein stumpfes "Oh" bringt Tommi heraus, so als wäre diese Aktion für ihn in keinster Weise vorhersehbar gewesen. Wie stark er das tatsächlich in Erwägung gezogen hat, vermag ich nicht zu beurteilen. Ihn ordentlich zu schockieren scheint es troztdem.

"Felix braucht dich mehr, als du es siehst, Tommi."

 Er schweigt.

"Du kennst doch dieses Leuchten in seinen Augen, oder?"
"Ja."
"Es ist weg. Seit er heute morgen bei mir war, sind sie dunkel und tun alles andere als leuchten."

Ein bedeutunsschwangeres Schlucken dringt durch das Handy an mein Ohr.

"Tommi, Felix ist emotional komplett abhängig von dir. Er redet nur von dir und "euch". Was auch immer das ist, keine Ahnung. Felix. Kann. Nicht. Ohne. Dich."
"Sorry, aber ich fahr' jetzt nicht fünf bis sechs Stunden wieder nach Berlin. Wir sind fast vor der Haustür. Selina köpft mich."
Ihr strenger Blick erscheint vor meinem inneren Auge.
"Felix will dich nicht zu einer Entscheidung zwingen. Ich auch nicht. Können wir auch gar nicht. Aber Selina?"

Fast entfallen mir meine Worte, Tommi kommt mir jedoch auch zuvor:
"Wir stehen fast vor der Haustür."
"Okay. Dachte nur, du solltest das wissen. Meine Nummer hast du ja."
"Danke Julian."

Ich will auflegen, weil mir die Situation zu blöd wird und ich zu unerfahren bin, um das Gespräch klug abzuschließen. Doch Tommi unterbricht meinen Plan. Wenn auch etwas unbeholfen, sagt er einen letzten Satz:
"Felix ist mir wichtig, wirklich. Nenn' mich Arschloch, aber das mach' ich nicht."

Wer von uns beiden letzendlich auflegt, kann ich nicht einmal sagen.
Unweigerlich bleibt mein Blick noch an dem Display hängen, das sich nach fünf Sekunden in ein Schwarz verwandelt.
Ich fühle mich komisch. Diese Situation ist neu für mich  und ich muss erstmal selbst verarbeiten, was zur Zeit passiert.
Überfordert schließe ich die Augen und reibe mir mit den Handballen über das Gesicht. Felix reißt mich jedoch aus meinem gedankenversunkenen Zustand, der so nur wenige Sekunden andauert: "Was hat er gesagt?" 
Wie viel hat er mitbkeommen? Auf jeden Fall genug, um zu wissen, dass ich mit Tommi gesprochen habe.

Ich sehe meinen Bruder an. Zumindest die Hülle, die seinen sonst aktiven und oft aufgedrehten Körper darstellt. Ohne etwas zu sagen betrachte ich ihn und werde nur in meinen Worten an Tommi gefestigt: Seine Augen glänzen nicht wie sonst. Sie sind erschöpft und ausgebrannt, wie Felix selbst. Einzelne Tränen treten aus ihnen heraus und laufen seine Wangen hinunter, bilden ziemlich schnell einen ununterbrochenen Fluss und enden schließlich in einem Heulkrampf, in dem Felix meine Hand stark drückt.

"Ich kann nicht ohne ihn..." haucht er weinerlich und versetzt mich damit in einen noch ratloseren Zustand als zuvor. Mit dem Daumen streichle ich über seinen Handrücken und lächele schwach. 
Mein vibrierendes Handy schalte ich stumm und lege es auf den Boden, nachdem ich mich vergewissert habe, dass es nicht Tommi ist.
"Ich weiß."- auch meine Stimme wird brüchig. 
"Aber er geht nicht für immer. Versprochen."
Ich kann ihm nichts versprechen, was nicht in meiner Hand liegt. Das weiß ich genau. Meine Ratlosigkeit überwiegt in diesem Moment jedoch. Ich lege einfach Wert auf Tommis Loyalität, was sich, soweit ich sie einschätzen kann, eigentlich auch lohnt. Oder?!
Ich will ihn nicht beurteilen.

"Ich will ihn streicheln, ich will ihn neben mir haben, ich will mit ihm kuscheln." flüstert Felix traurig.
"Ich weiß." wiederhole ich mich- Ratlosigkeit.
"Ich will Livehack."
"Soll ich Tommi anschreiben?"
Felix nickt schwach. Seufzend und an der Tauglichkeit meines Vorschlags zweifelnd nehme ich mein Handy wieder, entsperre es und ignoriere die drei vergangenen Anrufe von Jenny. Der noch fast leere Chat mit Felix' Kummererzeuger ist noch ganz oben, dafür aber fast leer.

"Also. Was soll ich schreiben?" 
Ich schaue Felix an und sein leerer Blick trifft mich härter, als ich es erwartet habe. Er zuckt mit den Schultern.
"Keine Ahnung."
Da ist kein Ton in seiner Stimme: keine Trauer, keine Enttäuschung, keine Erschöpfung, geschweige denn Euphorie. Alles an Felix ist leer.
"Hi?" schlägt er matt vor, ich bin jedoch nicht überzeugt und schüttele den Kopf.
"Können wir nochmal telefonieren dann wenn du Zeit hast? Felix" tippe ich ein und lese es ihm vor.
Sein teilnahmsloses Nicken nehme ich als "Ja" und tippe auf Absenden.

Ein Haken.
Zwei Haken.

Sie werden blau.

Tommi schreibt.
Felix schnieft.

Als ich zu ihm sehe, laufen wieder dicke Krokodilstränen seine Wangen hinunter und ich greife erneut zu seiner Hand, als das Geräusch einer neuen Textnachricht ertönt.
Ich erkenne Angst in Felix' Augen.

"Ja. Heute Abend?" lese ich vor und kann an seinem Blick deuten, dass das Felix eindeutig zu spät ist.
"So früh wie möglich am besten" Auf Felix' Bestätigung hin schicke ich den Text ab.
Tommi ist ein Künstler darin, das Thema zu umgehen, was zu Felix' Stimmungsaufhellung nur leider keineswegs beiträgt.
"Wie gehts dir?" will er wissen. Ohne Felix zu fragen antworte ich: "Scheiße."

"Weißt du, was mich traurig macht?" fragt Felix, so leise, dass ich Mühen habe, ihn überhaupt richtig verstehen zu können. Konfus schüttele ich langsam den Kopf, denke mir aber "Vieles." und bemerke, wie sich langsam ein Bild unserer Mutter in meinen Kopf schleicht. Normalerweise muss ich in so einem Moment lächeln, nur heute nicht. Die hübsche Frau wird von Tommis Lachen verdrängt. Ich spüre Schweiß an der Hand, ohne in der Lage zu sein, zu beurteilen, von wem dieser ausgeht. Der Gedankenaustausch zwischen Felix und mir hat schon immer vorzüglich funktioniert.

"Selina ist jetzt einfach an meinem Platz. Und ich kann Nichts tun. Weil er weg ist."
Seine Stimme wird gegen Ende des vorletzten Satzes brüchig, heiser und leiser. Die letzten Worte sind kaum hörbar, ich weiß aber, was er meint.
"Ich find's auch nicht cool, was er abzieht."

Ohne auf meinen Satz einzugehen, konfrontiert mich Felix mit seiner nächsten Aussage, lässt meine Unbeholfenheit ins Unermessliche steigen und es erschließt sich mir zu keinem Stück, worin sich der Grund für sie findet:
"Ich hab' Angst um ihn."

Uff, an Julians Perspektive muss ich mich erstmal gewöhnen. Mag das Kapitel nicht wirklich, irgendwie unzufrieden. Aber egal✌

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