#99 Das Tisch

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Perspektive Thomas "Tommi" Schmitt

"Das ist alles gerade...viel zu stressig." stöhnt Felix und lässt sich energielos auf sein Sofa fallen. Die Augen schließt er und atmet tief aus und ein, sein Brustkorb hebt und senkt sich.
Verwundert stehe ich daneben und will erst im Witz fragen, was genau los sei. Dann erkenne ich jedoch, dass es ihm wirklich nicht gut geht. Normalerweise öffnet er seine Augen wieder nach einigen Sekunden, steht schwungvoll auf, gibt mir einen Kuss und geht dann seiner Sache, die er vor seiner meditationsähnlichen Auszeit angefangen hat, weiter nach.
Heute nicht. Er liegt da einfach. Apathisch. Mit den Minuten verstehe ich mehr und mehr, warum er so kaputt und ausgelaugt ist und ich realisiere, dass es mir nicht wirklich anders geht. Er für seinen Teil hat nächste Woche eine lebensverändernde Untersuchung, für die er jetzt schon Vorkehrungen treffen muss, die ihm nicht gerade zusagen. Seine Mutter hat er dabei immer im Hinterkopf. Immernoch darf er keinen Alkohol trinken und keine Zigaretten rauchen, was ebenfalls an ihm nagt. Ich muss am Tag seiner Darmspiegelung wieder nach Köln zurück, in dem Risiko, dass ich die Frau sehe, mit der ich parallel zu Felix zusammen war. Nebenbei befinden sich meine Eltern immernoch in ihrer Scheidung. Mein Vater hat mich aus seinem Leben verbannt. Ach ja, und wir beide sind zum ersten Mal im Leben mit einem männlichen Arbeitskollegen zusammen. Die Anteilnahme am anderen ist so groß wie nie. Außerdem droht die BILD-Zeitung nun, unsere Beziehung öffentlich zu machen und erpresst uns. Zu viel Anteilnahme von außen an etwas, mit dem wir uns selbst erst einmal arrangieren müssen.
Ich kann seinen Zustand komplett nachvollziehen.

"Was machst du?" will ich also leise wissen, obwohl das so offensichtlich wie fragwürdig ist.
"Ich höre gerade auf meinen Körper. So wie Mama es wollte." antwortet er mit ruhiger, gelassener Stimme. Es klingt nicht vorwurfsvoll oder abweisend, eher neutral. Fast schon ausgeglichen. Ich muss kurz lächeln und überlege dann, welches Verhalten meinerseits nun angebracht ist.
Mein Bauchgefühl sagt mir, dass ich nicht weiter wie ein emotionsloses Schaf daneben stehen kann.
Vorsichtig lege ich mich dazu. Ein Ohr auf sein Herz, eine Hand auf seine rechte Brust, die andere Hand greift nach seiner. Ich höre ihn, ich spüre ihn. Er lebt. Fast erleichtert atme ich auf.

[Sidenote: beim Schreiben lief zufällig Dusk Till Dawn von Madilyn Bailey und ich finde, das passt gut. Gerne hören^^]
"Lass mich teilhaben an deiner Welt. Lass mich mal rein. Ich hole dich raus, wenn du willst." flüstere ich und streichle seine Hand.
"Ich hab' so Angst." murmelt er. Obwohl ich die Augen ebenfalls geschlossen halte, weiß ich, dass er weint. Es sind diese leisen Tränen. Dafür tut es in seinem Inneren umso mehr weh.
"Da is' immer wieder die Angst vor diesem Schmerz."
Eine Pause, die ich nutze, um zu schweigen.
"Mein Herz tut weh."
Das zu hören tut mir ebenfalls weh. Weil ich nicht weiß, was ich machen soll. Es bleibt mir nur, auf meinen Instinkt zu hören.
Ich lege meinen rechten Arm um ihn und halte ihn sanft an der Hüfte fest.

"Wollen wir zusammen weinen?" frage ich leise, so leise, als hätte ich Angst, mit meiner Stimme etwas kaputt zu machen. Ich frage das einerseits, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll und andererseits, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass das oft hilft.
Er nickt schwach, schnieft. Ich öffne meine Augen wieder und sehe zu ihm nach oben, ohne mich großartig zu bewegen. Er schaut durch das Fenster nach draußen. Als wolle er raus. Nicht unbedingt aus dieser Wohnung. Aber trotzdem irgendwie einfach raus. Wenigstens ist sein zielgericheter Blick nun nicht mehr so unheimlich leer. Er durchdringt trotzdem alles, was ihn kreuzt. Doch allein beim Zusehen weiß ich, dass sein Blick jetzt, wo er so starrt, erneut verschwimmt. Auch ich kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. Wir schluchzen um die Wette. Zwischendrin sind wir ganz leise.
Meine Hand wandert langsam nach oben in seine kurzen Haare, ich fahre durch sie, sie sind nassgeschwitzt, ich massiere sanft seine Kopfhaut, die Spannung löst sich und Felix atmet auf.

"Das hat wirklich gut getan."
Seine Stimme klingt nun fester.
"Stell dir mal vor, wir hätten uns nie kennengelernt." sagt er halblaut.
"Wenn wir beide nie bei Nightwash gewesen wären, beide einfach normal studiert hätten. Ich will dich nicht nicht kennen, weißt du?" Ich nicke, streichle über seinen Handrücken.
"Ich kann mir gar nicht vorstellen, nicht dieses kribbelnde Gefühl zu haben, wenn ich an dich denke." erwidere ich.
"Ich glaube, wir brauchen Urlaub." schlägt er aus dem Nichts vor. Ich muss grinsen. "Klingt gut."
Den Kopf, den ich gehoben habe, lasse ich nun wieder sinken. Aber nicht aus Mitleid. Ich träume jetzt. Felix scheint die Kraft zu finden, den Arm um meinen runden Rücken zu legen. Er träumt mit.
"Mexiko." sagt er. So bestimmt, dass ich nichts entgegensetzen kann. Will ich aber auch gar nicht.
"Guck mal. Vor dir. Da ist das Tisch. Da liegt der Handy drauf. Da können wir den Reise planen." witzele ich, ohne meinen Kopf zu heben.

In diesem Moment vibriert das Gerät. Felix schaut kurz auf, lugt auf den Bildschirm. Becci ruft an. Von neuer Kraft erfasst setzt er sich auf, ich löse mich, er nimmt das Gerät in die Hand, hebt ab und lässt sich dabei wieder nach hinten fallen. "Ja?"
Gespannt sitze ich neben ihm. Die Sätze seiner Agentin höre ich nur dumpf und undeutlich, da er das Handy am Ohr hat. Sein Körper bleibt weiterhin angespannt.
"Okay, also ich hab' mit den Spackos jetzt verhandelt." beginnt sie sofort, ohne irgendeine Begrüßung. Auch habe ich sie noch nie so ausfallend erlebt.
"Die haben wirklich die echten Bilder von euch, wie du mir bestätigt hast. Ich weiß nicht wie, aber sie haben sie."
Felix seufzt laut, schiebt mit den Fingern sein T-Shirt etwas nach oben und fährt sich nachdenklich über den Bauch.
Der Bund seiner Unterhose wird sichtbar. An seinem Hüftknochen hat er einen kleinen Knick. Vorsichtig löse ich ihn, das leise Schnappen hört man kaum, weil es so hoch ist. Felix bemerkt es natürlich, sieht erst zu meiner Hand und dann zu mir, lächelt und wuschelt mir kurz durch die Haare.

"Und jetzt? Was hast du mit denen ausgemacht? Danke übrigens."
"Wir haben uns auf 4500 geeinigt. Denk nicht drüber nach, versuch nicht, was dran zu rütteln. Ich bin froh, dass ich die auf diese Summe bekommen hab'. Wollte nur Bescheid sagen."
Hälfte, Hälfte. Eindeutig. Er 2250 €, ich 2250 €.
"Hm, okay. Und was bedeutet das jetzt für uns und die Bilder?"
"Die Bilder werden nicht veröffentlicht, eure Beziehung auch nicht."
Felix atmet auf.
"Ich kann aber nicht versprechen, dass es nicht doch einen Artikel über Geldwechsel an sich gibt."
Ich nicke, obwohl sie das nicht sehen kann und auch Felix mich in diesem Moment eher nicht wahrnimmt.
"Die Überweisung ist schon gemacht. Nicht, dass die noch auf andere Ideen kommen."
"Gut. Danke."
Felix und ich schauen uns an. Jedoch ist da nicht die Sicherheit in seinem Blick, die er mir sonst immer gibt.

Platzierte, verkopfte, elegalante Gemischtes Hack Story Where stories live. Discover now