#53 Live Gloria Hole

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15. Februar 2020


Perspektive Felix Manuel Lobrecht

"Ey wer kommt heute mit saufen?"
Ich mochte zweckungebundene WhatsApp-Gruppen mit Freunden noch nie so richtig. Sie bauen immer Druck auf mich auf.
Einige antworten, kaum jemand sagt ab, viele Nummern kenne ich nicht, meine besten Kumpels sind dabei, ich frage mich, warum ich in dieser Gruppe bin.

Resigniert schalte ich mein Handy einfach aus und lege es weg.
Es ist ein durchaus erprobtes Mittel, seine Probleme zumindest für einen Abend wegzusaufen. Die Nacht ist die Zeit, in der alles offen ist, was mir hilft, zu fliehen. Vor mir und vor meinen Problemen.
Während ich darüber nachdenke, bleibe ich am Küchentisch sitzen und fahre mir mit den Händen durchs Gesicht, halte die Augen geschlossen.

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Nach einer halben Stunde sinnloser, absolut nicht konstruktiver Tätigkeiten im Haushalt schalte ich das Gerät wieder an.
Dass Tommi mir nicht geschrieben hat, ist ein maßgeblicher Auslöser dafür, dass ich mich dazu entscheide, mitzugehen. Reines Ablenkungsmanöver; das kann ich ja so gut. Primär von mir und meinen Problemen.

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Als ich meine Jacke anziehe, ein Paar Schuhe raussuche und etwas Geld für mein Party-Portemonnaie zusammensammle, überlege ich, ob ich etwas trinken werde.
Gerade so denke ich an meinen Schlüssel, bevor ich die Wohnungstür hinter mir zuziehe. Eine Entscheidung ist noch nicht gefallen.

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Ich begrüße die Jungs normal, bin der Letzte und wir laufen sofort los. Auf dem Weg zur Bar führen wir kurz durcheinander Smalltalk. Ich schaue mich um und registriere die Anwesenden. Julian ist nicht dabei, die Chance dafür war auch gering. An dieser Gruppe ist er nicht wirklich beteiligt, hat bestimmt auch andere Sachen zu tun. Im Gegensatz zu mir ist er jemand, der sich seinen Problemen so direkt und früh wie möglich stellt und ihnen nicht so lange wie möglich aus dem Weg geht.

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Ich bin stolz.
Ich bin stolz darauf, keinen Alkohol bestellt zu haben.
Ich bin stolz darauf, dass ich es schaffe, mich an die Regel zu halten.
Ich schäme mich.
Ich schäme mich dafür, heimlich alkoholfreies Bier zu bestellen.
Ich schäme mich dafür, nicht mutig genug zu sein, um meinen Kumpels Bescheid zu sagen.

Ich kann die Situation nicht einschätzen.

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"Felix, komm. Wir trinken was zusammen. Geht auf mich." grölt mich ein Kumpel an und kommt auf mich zu. Martin heißt er, wir haben uns kennengelernt, als wir als Jugendliche den gleichen scheiß Job hatten, um wenigstens ein bisschen Kohle zu verdienen.
Der Abend ist fortgeschritten, alle sind ziemlich gut drauf, ich bin ziemlich gut abgelenkt.
Aus erstem Instinkt heraus nicke ich, gehe mit ihm locker zur Bar und wir setzen uns nebeneinander auf zwei Hocker.
"Zwei Bier, bitte." sagt er und lächelt den Kellner freundlich an. Dieser nickt, schnappt sich zwei Biergläser, befüllt sie und stellt sie geschickt mit jeweils einem frischen Untersetzer vor uns hin.

Etwas verzögert nehme ich meins in die Hand, wir stoßen an und wie in Zeitlupe sehe ich, wie er trinkt und mir einen fragenden Blick zuwirft. So ernsthaft fragend, wie ein Betrunkener zumindest noch schauen kann.
Leicht hilflos schaue ich mich um, das randvolle Glas noch in meiner Hand und suche irgendeinen Ausweg.
Die Menschen tanzen, trinken, unterhalten sich, machen schlechte Wortspiele, flirten.

Martin schaut mich immernoch an, sein Getränk ist schon fast zur Hälfte leer. 
Weiter und weiter zögere ich den Moment hinaus. So lange, bis es unangenehmer nicht sein könnte und setze dann an.
Der herbe, bittere Geschmack von Bier legt sich auf meine Zunge, als ich nur ganz leicht nippe. Dass ich das Gesicht nicht verziehe, kann ich noch gerade so unterdrücken.
Zum Glück habe ich vorher genügend Spucke angesammelt, mit der ich das ekelhafte, ungewohnte Aroma verdünnen und hinunterschlucken kann.

Immernoch liegt Martins erwartungsvoller Blick auf mir, welchem ich aber langsam nicht mehr standhalten kann.
Der Druck steigt.
Ich muss aus dieser Situation raus.
Ein Kopfschmerz auf der rechten Seite schleicht sich ein.
Wieder schaue ich mich um, doch da ist keiner, der mich hier herausholen kann.
Also muss ich es selbst tun- reflexhaft, fluchtartig, sprunghaft.

Das Bier lasse ich stehen, Martin verdutzt davor und renne raus. Vorbei an den Jungs und ihren schlechten Wortspielen- in der Eile nehme ich "Gloria Hole" auf und schüttele nebenbei den Kopf. Laufe unbeirrt weiter, in die Richtung, in der ich mein Auto vermute. Woher wir gekommen sind, weiß ich nicht mehr, meine Orientierung habe ich verloren.


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Ich bin zu Hause. Wie ich das geschafft habe, weiß ich nicht. Dass ich keinen Unfall gebaut habe, wundert mich.
Wie aus Reflex laufe ich in die Küche.
Die Wodka-Flasche und die Bierdose in meinem Kühlschrank haben mehr romantische und innigere Beziehungen als ich und mit jeder Sekunde, in der das unangehme Licht in mein Gesicht scheint, ziehe ich mehr und mehr in Erwägung, sie zu trennen und nacheinander zu leeren. Sie schrecken mich nicht mehr ab.
Einige weitere Sekunden zögere ich.
In den Kühlschrank gebeugt tanze ich einen Tanz mit meinem inneren Monster.
Es ist kein schöner, filigraner Tanz, den man sich gerne ansieht.
"Ich hab' keine Eier." denke ich, als ich mich in dem weißen Innenraum umsehe. Doch die Ablenkung funktioniert nicht. Die Insezenierung der Ablenkung von meinem glücklichen Image nach außen ist zu aufwändig. Ich bin zu schwach.

Ich weiß nicht einmal, wo der Alkohol überhaupt herkommt, fällt mir ein, als ich das Glas Wodka in zwei Zügen leere. Nicht einmal Zitrone habe ich da, wie schäbig.
Wieder verziehe ich das Gesicht, der pure Ethanolgeschmack macht das Getränk nicht lecker. Doch ich weiß wirklich nicht, was ich fühlen soll.
Ziemlich sicher spüre ich Schmerz- körperlich und mental.

Automatisiert greife ich zu meinem Handy.
Eigentlich ist es eine klassische Samstag-Party-Nacht: irgendwann sitzt man im Dunkeln allein zu Hause und trinkt ein paar letzte Schlucke.
Doch eigentlich bin ich so unendlich dumm. Ich bin nicht mehr stolz, nicht mehr stark. Fühle mich nur noch feiger.
Ich kämpfe gegen meine eigenen Gedanken.
Meine Schwäche ist meine Munition gegen mich.
Natürlich verliere ich.

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Ich habe es in mein Bett geschafft.
All das landet in meinen Notizen.
Ob ich das Tommi schreibe, weiß ich noch nicht.
Aber es sind Gedanken, die ich aufschreiben muss.
Gedanken, die sonst verfliegen.
Gedanken, um die es schade wäre, weil sie so schön traurig sind und wehtun.
Ich schließe alle Apps, sehe den Kalender auf meinem Startbildschirm.
Dass gestern Valentinstag war, hilft mir beim Gedanken an ihn auch nicht weiter.

Blaulichter und Sondersignaltöne zerreißen die Berliner Nacht und mich aus dem Schlaf.
Glaube ich zumindest. Mit den Sekunden des Starrens in die blaue Dunkelheit meines Schlafzimmers bezweifle ich, dass ich überhaupt geschlafen habe. Und, dass ich es diese Nacht noch werde.



Leute, ich schwöre euch hoch und heilig, dass sich Tommi und Felix im nächsten Kapitel sehen.

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