#133 Tamam Okidoki

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"Hey, alles okay bei dir?"
lese ich mit noch verschwommenem Blick, nachdem mein Handy in der Hosentasche vibriert hat und ich für einige Sekunden im schwarzen Display meine Spiegelung gesehen habe: zerknittert, verheult, tieftraurig.
Niclas ist wirklich ein herzensguter Mensch, nur weiß ich absolut nicht, was ich ihm antworten soll. Kurz ziehe ich in Erwägung, seine Nachricht einfach zu ignorieren. Aber dann fällt mir ein, dass das total unfair wäre.
Als mir aber nach zwei Minuten keine passende Antwort einfällt, entscheide ich mich dazu, die Nachricht zu vertragen und erst einmal jemand anderem zu schreiben, auch wenn mir das nicht unbedingt leichter fällt: Selina.
Kurz erwäge ich, sie einfach kurzerhand anzurufen und gehe der Gewohnheit nach, den Anfang des Anrufs in meinem Kopf zu simulieren.
"Hallo Felix, was gibt's?" würde sie sagen, ich würde fragen "Hi, wo bist du gerade? Stör ich? Sitzt du?". Dann würde sie sowas antworten wie "Ich bin gerade auf Arbeit, was ist los? Ist was mit Tommi?"
Bereits an diesem Punkt zieht sich in mir alles zusammen und der Kloß in meinem Hals wird wieder dicker. Ich entscheide mich also gegen das Telefonat und für die Nachricht. Besser fallen meine Tränen auf meinen Bildschirm und tippen wahllose Buchstaben ein, als dass Selina mich weinen hört.

Meine Nachricht berichtet ihr kurz von den Umständen und fragt, ob sie von irgendwelchen Vorerkrankungen oder Allergien wisse. Niclas bekommt ein "Ich rufe dich heute Abend an.". Das haben wir als Jugendliche schon immer so gemacht. SMS waren zu teuer und wir hatten uns immer ganz viel zu erzählen. Meistens haben wir uns dann getroffen und sind durch Neukölln spazieren gegangen. Unser Geheimcode war "Tamam okidoki", wenn einer von uns kurz aus einer gewissen Situation rausmusste.

Juju bekommt Bescheid, mein Bruder auch. Selina, Becci und mein Vater wissen es bereits. Kontakt zu Tommis Eltern habe ich nicht, aber vielleicht finde ich irgendwo irgendwie eine Festnetznummer. Sobald ich die Kraft dazu habe, werde ich sie anrufen. Stefans Instragram-Account muss ich auch noch ausfindig machen.

Der tonnenschwere Stahl eines Krans auf der Baustelle in der Nähe des Krankenhauses ächzt sein bestes Krächzen. Ich schaue aus dem Fenster und sehe, wie ein orangenes Metallgerüst sechs riesige Betonteile einfach so in der Luft hält. Tommi würde sich herrlich über dieses Geräusch und diesen Anblick echauffieren und betonen, dass er nichts, aber auch gar nichts dazu beitragen könnte, dass das Ding da steht und seine Arbeit macht.

Erst jetzt fällt mir das kleine Plastikfass auf, welches an Tommis Bett hängt und aus welchem ein Schlauch hinausführt, der an einer Stelle dünner wird und irgendwo in Tommis Körper endet. Sowohl in dem Schlauch als auch in dem Fässchen ist Blut, welches sich ganz langsam nach unten bewegt.
Schon wieder vibriert mein Handy, diesmal aber länger als nur ein Mal. Irgendjemand ruft mich an. Schnell gehe ich die durchaus kurze Liste an Leuten durch, deren Anruf ich jetzt annehmen würde: Papa, Julian, Sophie.

Ich schließe kurz die Augen und hole dann mein Handy aus der Hosentasche: es ist Becci. Ich seufze und hebe dann ab. "Ja?" sage ich leise. Normalerweise hätte ich mich jetzt noch zu einem Lächeln durchgerungen, aber das sieht sie sowieso nicht und eigentlich wollte ich mir das auch abgewöhnen.
"Hey Felix. Wie geht's euch? Bist du bei ihm?"
"Ja." antworte ich. "Sitze neben ihm. Er liegt im Koma und wird beatmet. Überall Schläuche."
"Okay und wie geht's dir?"
"Scheiße."
Ich höre sie nicken.
"Das ist absolut okay. Wenn ich dir irgendwie helfen kann, sag bitte Bescheid, ja?"
"Ja, mach ich. Danke. Warum hast du angerufen?"
"Nächste Woche findet so eine Podcastpreisverleihung statt. Davon hatte ich euch vor einiger Zeit schonmal erzählt. Total irrelevant eigentlich. Nominiert sind nur so kleine Pleppo-Podcasts und ihr halt. Also gehe ich stark davon aus, dass ihr das gewinnt. Keine Ahnung, nach welchen Kriterien da gegangen wird, aber willst du da hingehen? Ist in Köln."
Für einige Sekunden herrscht ein beinahe knisterndes Schweigen zwischen uns in der Leitung.
"Wir haben uns versprochen, eine Rede zu halten."
"Ähm, okay? Muss ich mehr darüber wissen oder sage ich einfach für dich zu und du regelst den Rest?"
"Wir waren betrunken. Ich mach das schon. Danke."

Wir waren betrunken.
Nicht vor Alkohol, vor Liebe.
Als ich das Handy langsam auf meine Beine sinken lasse, kommt die Erinnerung an den Abend wieder hoch. Ich lächle.
Es war kurz nachdem Becci uns das erste Mal von diesem lächerlichen Podcastpreis erzählt hatte. Sie hatte mich angerufen, während Tommis Kopf gerade in meinem Schoß lag und ich mit geschlossenen Augen seinen Wuschelkopf kraulte. Den Anruf nahm ich an wie betrunken. Nicht vor Alkohol, vor Liebe. Wir schwafelten hohe Töne, sagten zu und kurz vor dem Auflegen hörte sie noch unsere Lippen aufeinandertreffen. Ich hatte mich zu ihm heruntergebeugt, seinen Kopf festgehalten und einen liebevollen Kuss gegeben. Wir haben uns nicht lösen können, als ich mich wieder aufrichtete, also kam er mit nach oben und setzte sich auf meinen Schoß, legte seine Arme um und den Kopf an meinen Hals. Meine Hände kamen an seiner Hüfte zur Ruhe und ich glaube, wir sind tatsächlich auch so eingeschlafen.

Das Klopfen an eine Zimmertür reißt mich aus den Gedanken an eine Zeit, in der alles noch in Ordnung war. Ich blicke nach oben, der Kran steht immernoch genauso da und Tommi ist auch noch nicht wach. Eine helle Frauenstimme hinter mir ertönt. "Herr Lobrecht, ich müsste sie jetzt bitten, zu gehen. Die Besuchszeit ist vorbei, wir beginnen jetzt gleich mit unserer Abendrunde."
Ich nicke und stehe auf, lächle die Pflegerin an und gehe wortlos aus dem Raum. Mein Vater hat mich zu einem "Danke." erzogen. Aber das schaffe ich gerade echt nicht, obwohl sie es verdient hat.

Dass ich das Auto tatsächlich abgeschlossen hatte, bestätigt sich, als ich wieder davor stehe. In dem Moment, in dem ich mich auf den Fahrersitz fallen lasse, spüre ich, dass ich total Hunger habe. Habe ich heute überhaupt schon irgendetwas gegessen? Ja, nach dem Training, morgens. Aber seit dem Treffen mit Niclas nicht mehr. Aber das ist jetzt zweitrangig. Wie soll ich auf einer verfickten Bühne vor weiß ich nicht wievielen Menschen alleine einen Preis für unser gemeinsames Baby annehmen und in einer Rede auch noch erzählen, dass Tommi im Koma liegt? Oder soll ich es überhaupt irgendwie erwähnen? Was, wenn er bis dahin aufgewacht ist? Dann bin ich garantiert nicht bei irgendeinem Podcastpreis. Und wenn er bis dahin gestorben ist, auch nicht. Vielleicht erzähle ich auch gar nichts davon. Lüge, sage, dass er verhindert ist, einen anderen Termin hat, aber ich mich dazu erbarmt habe, die Veranstaltung mit meiner Anwesenheit zu beehren. Daraus könnte man wenigstens noch etwas lustiges basteln.
Vorausgesetzt natürlich, ich finde irgendwie die Kapazitäten dazu.

Platzierte, verkopfte, elegalante Gemischtes Hack Story Where stories live. Discover now