#55 Kaugummi im Gucci-Shirt

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Perspektive Felix Manuel Lobrecht 

Wieder auf der Straße.
A 1 Richtung Köln.
Ich habe noch einen semi-wichtigen Termin in der Stadt mit Menschen, die ich auch nur so halb gut kenne. Ich  mag sie, sehe sie immer mal, wir stehen uns aber nicht allzu nahe.
So richtig ernst nehme ich das Treffen auch nicht, um ehrlich zu sein, weiß ich nicht einmal, was genau besprochen wird.
Genauste Details hat Becky mir zwar mitgeteilt, die habe ich aber vier Sekunden nach dem Lesen schon wieder vergessen.
Ich werde es wohl noch mitbekommen. Spätestens im Laufe des Meetings.
Jetzt sitze ich ersteinmal hier und lasse es auf mich zukommen, wie die Straße und Autos vor mir.
Mit ziemlich konstanter Geschwindigkeit– ich habe nur wenig Bock, mit Raserei oder gefährlichen Überholmanövern zu experimentieren, fahre ich bis zur letzten Ausfahrt. Mein innerer Tempomat regelt das schon.

Dass niemand mit mir im Auto sitzt, beruhigt mich.
So kann ich ungestört allem nachgehen, das mich ereilt-  Trauer, Wut, Freude, Willkür, Hingabe, Ausbrüche oder pure Stille.
Besonders auf der Autobahn kann ich all meinen Gefühlen freien Lauf lassen- unterstützt von meinen beiden Playlists.

Kaum, dass ich in das Kölner Stadtgebiet hineinfahre, wird der Verkehr chaotischer und unruhiger, so auch ich.
Irgendwann stehe ich einfach so an einer Ampel, war so unkonzentriert, dass ich ihr rotes Licht noch gerade so gesehen habe und anhalten konnte.
Ungeduldig rutsche ich auf dem Sitz hin und her, schaue zur Zeitüberbrückung aus dem Fenster und beobachte die Menschen, so, wie ich es immer tue.
Glücklicherweise lotst mich mein Navi zu dem Termin, allein hätte ich mich daran niemals erinnert, auch, wenn ich an diesem Ort schon mehrmals gewesen bin.

Die beiden Anwesenden, die ich noch nicht kenne, müssen mich als sehr unsympathisch empfunden haben: viel geredet habe ich nicht, wenn, nur ein paar Worte oder zusammenhangslose Sätze ohne viel Struktur. Manchmal habe ich noch genickt, oft nur auf die Wasserflasche vor mir gestarrt. An das Thema kann ich mich wieder nicht erinnern. Beziehungsweise nicht mehr.
Was für mich nur zählt, als ich das Gebäude verlasse, sind zwei Dinge:
Erstens mein Auto wiederzufinden und zweitens Tommi  zu schreiben.

Seiner Instagramstory, die ich checke, nachdem ich mich auf den Sitz habe plumpsen lassen, verrät mir, dass er auf jeden Fall Langeweile und Zeit für mich hat. Und selbst, wenn nicht, werde ich in ungefähr 24 Minuten einfach bei ihm sein. Ob er kann oder nicht. Ich brauche das gerade.
Zügig starte ich meinen Wagen und lenke ihn weiter durch die Kölner Innenstadt, die ich so gar nicht zu befahren bevorzuge. Wie es zu Tommi geht, weiß ich allerdings genau.
Dass vor dem Haus seiner Wohnung wieder mal kein Parkplatz ist, war mir eigentlich auch sehr klar.
Also stelle ich mein Auto einige Straßen weiter ab und laufe das letzte Stück, was mir zugegeben nicht schlecht tut. Die Luft hier ist zwar überhaupt nicht vergleichbar mit der auf dem Friedhof, aber trotzdem erinnert es mich an den Ort, an dem ich aufgewachsen bin: die Großstadt.

Links neben mir baut sich auf einmal ein Rewe vor mir auf. Kurz überlege ich, schnell reinzugehen und irgendetwas zu essen zu kaufen. Die Geräusche meines Magens raten mir dazu. Mein Kopf jedoch sorgt dafür, dass ich dem Penner vor dem Eingang mit einem Lächeln 50 Euro in die Hand drücke. Essen ist für mich immer greifbares Gut, ich muss nie wirklich hungern. Bei ihm sieht das anders aus. 
Wir reden nicht. Ich sage nicht "Hier.", "Bitte." oder "Kauf dir was.". Er sagt nicht "Danke.", "Wow ist das viel."oder "Das kann ich nicht annehmen.". Er ist einfach perplex, sprachlos. Ich gehe einfach kommentarlos weiter.

Es sind nur noch knapp 100 Meter zu Tommis Hauseingang, ich schaue auf den Boden vor mir, zähle die Schritte: 167. 112 Sekunden. Dann klingele ich. Weitere vier Sekunden, bis der Summer ertönt und ich gegen die Tür drücke. Er weiß bescheid.
36 Stufen, Sekunden verzählt.
Dann sehe ich ihn.
Er sieht traurig aus. Zumindest nicht gerade glücklich.
"Hi, na?" sage ich und ziehe meine Schuhe aus.
Wir umarmen uns flüchtig, obwohl ich es gern länger gehabt hätte.
"Hi." erwidert er tonlos. Das "Komm rein.", das ich jetzt eigentlich von ihm erwartet hätte, bleibt aus.

Als es kurz still zwischen uns ist, höre ich in die Wohnung hinein. Er ist allein, niemand sonst ist noch hier, ich habe auch keine anderen Schuhe vor dem Regal oder eine andere Jacke am Haken gesehen.
Ich folge ihm ins Wohnzimmer.
"Was machst du eigentlich so früh schon in Köln und allgemein auf den Beinen? Habe heute früh schon um fünf Uhr oder so gesehen, dass du online warst."
Ich nicke nur, hole mein Handy heraus und zeige ihm das Bild des Grabes. Wissentlich nickt er, sagt aber nichts.
Dankbar darüber, dass sich das Gerät automatisch mit seinem WLAN verbindet, schaue ich kurz nach, ob jemand geantwortet hat. Negativ.

Auf der Couch sitzen wir so, wie ich mit Julian saß. Ich möchte nicht an diese Situation erinnert werden, sonst holt mich nur wieder der Drang, zu rauchen ein.
Mir fällt auf, dass Tommi nichts von dem mitbekommen hat, was mir in der letzten Zeit passiert ist. Ich von ihm jedoch auch nicht.

Mein Blick durchdringt die gänzlich leere Atmosphäre des Raumes.
Ich traue mich nicht zu fragen, wo Selina ist oder wie es ihr geht. Ich will es eigentlich auch gar nicht wissen. Es wäre reiner Anstand gewesen. Anstand, den ich mir Tommi gegenüber jetzt einfach mal spare.

Er geht an sein Handy, tippt oben, links, tippt schnell auf der Tastatur, schickt es ab, bekommt eine Nachricht, lächelt.
Plötzlich werde ich über die Ablenkung eifersüchtig.
Ich will derjenige sein, der ihn zum Lachen bringt.
Nicht Selina. Nicht sein Bruder. Nicht seine Freunde. Nicht seine Kollegen. Oder mit wem auch immer er schreibt.

Gefühle kommen hoch, überkommen mich.
Von heute Vormittag. Noch oder wieder. Auf jeden Fall ziemlich extrem. Tränen brechen aus mir heraus. Ich lasse meinen Kopf gegen Tommi fallen, einfach so, auch damit muss er jetzt zurechtkommen.
Unkontrolliert verfalle ich in einen Heulkrampf, atme unregelmäßig ein und aus, bekomme Schnappatmung.
"Ich vermisse sie so doll..." schluchze ich, undeutlich, gegen sein Hemd.
Er weiß, wen ich meine.
Noch schlimmer als Kaugummi im Gucci-Shirt finde ich Tränen auf dem Balenciaga-Oberteil. Weil es Schwäche zeigt, irgendwie. 
Eigentlich mag ich keine möchtegern-weise Sprichworte, aber es stimmt: Glücklichkeit kann ich mir mit meinem Kontostand nicht kaufen. Mit keinem Kontostand der Welt.
Wenn etwas oder jemand fehlt, wird man auch mit 200 hochpreisigen Kleidungsstücken nicht froh.


Hmm irgendwie tut mir das Kapitel leid

Platzierte, verkopfte, elegalante Gemischtes Hack Story Where stories live. Discover now