#54 Ohne Oboe kein Bär

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Kurze Anmerkung: In diesem Kapitel geht es um Tod und Trauer.

Perspektive Felix Manuel Lobrecht 

Die winterliche Morgensonne blendet mich und bereitet mir Schwierigkeiten, den Verkehr richtig einzusehen.
Ich gehe vom Gas, versuche mich zu entspannen und es durch den Berliner Stadtverkehr langsamer anzugehen.

Ich fahre nur zur Ablenkung. 
Manchmal einfach so durch die Stadt oder aus ihr heraus.
Heute aber mit einem direkten Ziel: ein Waldfriedhof in Münster.
Wie genau dieser heißt, kann ich nicht sagen. Ich weiß aber, wo ich hinmuss, wenn ich in den Stadtteil hineinfahre und die Straßen sehe.

Nach etwas mehr als fünf Stunden biege ich in ein Viertel ein, das mich in die Jahre 1989 bis 1993 zurückversetzt.
Nicht, dass ich mich direkt an diese Zeit erinnern kann, aber ich weiß, dass wir hier gelebt haben.
"Hiltruper Straße" verrät ein Schild. Ich hätte es nicht mehr betiteln können, die Umgebung kommt mir aber erstaunlich vertraut vor. 
Ich werde langsamer, fahre deutlich weniger als 50 und beobachte die Ortschaft. Instinktiv setze ich meinen Weg entlang des Dortmund-Ems-Kanals fort, bis ich an einen Abzweig komme.
"Am Waldfriedhof" besagt ein filigranes Holzschild mit Pfeil. Leicht zögernd setze ich den Blinker, atme tief ein und biege ab. Ein großes Feld am rechten Straßenrand läutet die angenehme Umgebung des Erholungsgebietes „Hohe Ward“ ein, das nur wenige Meter Luftlinie entfernt und Namensgeber des Friedhofes ist.
Wir müssen als Kleinkinder hier oft gewesen sein.

Immer noch langsam, aber zielstrebig fahre ich die knapp 250 Meter zu dem Parkplatz. Fast zu spät sehe ich einen kleinen Blumenladen, der mir unbekannt vorkommt, von dem ich mir aber sicher bin, dass er Trauerfloristik anbietet.

30 Euro bezahle ich, gebe noch fünf Trinkgeld und verlasse mit einem halbehrlichen Lächeln auf den Lippen und einem hübschen Liegestrauß in der linken Hand den kleinen Laden.

"Friedhof Hoheward" begrüßt mich ein grünes, zwar dezentes, aber schmuck gestaltetes Schild. Kurz zucken meine Mundwinkel nach oben, ein letztes Mal atme ich tief ein und betrete mit einem schwerfälligen Schritt das Gelände.
Es brennt in mir. Schmerzvoll. Nicht lustgebtrieben.
Nicht positiv, nicht aufregend.
Gleichzeitig ist da irgendwie nichts in mir.

Unaufgefordert zeigt mir meine innere, instinktive Navigation den richtigen Weg.
Vorbei an der Feierhalle mit dem pyramidenförmigen Dach, den neuen Teil des Friedhofes ignorieren und nur einen kurzen Blick darauf werfen. Bedächtig gehe ich weiter in Richtung des alten, parkähnlichen Teils, an den ich mich sogar noch erinnern kann.

Ich weiß exakt, wo sie liegt; schon von Weitem strahlt mich ihr Grab an.
Frontal stehe ich davor und betrachte es für einige Sekunden. Es ist dezent gestaltet, nicht groß ausgeschmückt. Langsam lege ich den Strauß ab und drapiere ihn akribisch an einer freien Stelle. Er scheint wie gemacht für diesen Platz.

Bewusst atme ich ein, spüre die gute Luft durch meine Lungen strömen. Für sie. Weil sie es nicht mehr kann.
Der Gedanke beruhigt mich etwas.

"Hallo." sage ich leise, einfach so.
Einige Sekunden Stille.
Plötzlich höre ich ihre Stimme. Erst dumpf und kaum wahrnehmbar, dann immer deutlicher und klarer. Sie klingt weich und liebevoll.
Wir reden miteinander.
Ich spüre, dass sie alles mitbekommt und wie stolz sie ist.

1992.

Wir sind auf einem Rummel.
Es ist das letzte Mal, dass wir etwas miteinander unternommen haben. Danach lässt es ihre Gesundheit nicht mehr zu.
Ich laufe an der Hand meiner Mutter, dass ich nicht wegrenne, mein Bruder mit unserem Vater. Ich sehe einen Stoffteddy, der mich so sehr begeistert, dass ich ihn unbedingt haben will und zeige aufgeregt mit dem Finger auf ihn.
Vier der Dosen mit Instrumentenaufkleber treffe ich ganz allein. Fünf brauche ich.
"Ohne Oboe kein Bär." sagt der graubärtige Mann an dem Stand. Unsicher schaue ich zu meiner Mutter. Wie selbstverständliche nimmt sie mit meiner Hand den letzten Ball und wir schießen.

2020.

Den Bären habe ich immer noch.
Er heißt Micha und ist eigentlich immer in meinem Bett- zu Hause, als auch in Hotels.
Manchmal missbrauche ich ihn als Schlafbrille. Aber er passt auf mich auf.

Sein Bild schießt mir sofort in den Kopf, ich muss lächeln.
Gleichzeitig spüre ich meine Gänsehaut im Rhythmus meines Pulses aufflammen.

Eine für Außenstehende unsichtbare Magie umspielt das Grab. Ich bin mir sicher, meine Familie kann sie auch sehen.
Ich mache ein Bild und schicke es kommentarlos in unsere Gruppe.
Kurz denke ich darüber nach, das auch an Tommi zu schicken, stecke dann aber sofort mein Handy wieder weg. Aus Respekt. Und aus Selbstschutz.

Okokok ich weiß, ich hab versprochen, dass sie sich sehen. Aber das hätte die Grenzen des Kapitels gesprengt. Aber Felix ist ja quasi schon in Köln. Nächstes Kapitel. Wirklich!!!

Sorry ♡

Platzierte, verkopfte, elegalante Gemischtes Hack Story Where stories live. Discover now