#64 Slackline durchschneiden

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Perspektive Felix Manuel Lobrecht

Es klingelt kein Wecker – wir wachen einfach auf.
Als erstes sehe ich in die wunderschönen Augen meines Freundes und gebe ihm einen Kuss.
"Hab' ich dir schon erzählt, dass ich heute arbeiten muss?" murmelt er kleinlaut und vergräbt seinen Kopf an meiner Brust, sodass ich fast nichts verstehe.
Ich verneine.
"Ist aber auch nicht so schlimm. Ich helf' dir, koche, ich find' schon was."
Mein nächster Vorschlag ist ein Test von mir für mich. Der Schiedsrichter bin auch ich.
"Ich mach' dir aber schonmal 'nen Kaffee." biete ich an und schäle mich aus dem Bett.

"Komm mal wieder heeeer. Es ist kaaaalt." ningelt Tommi, als ich an der offenen Tür zum Schlafzimmer vorbei durch den Flur gehe und er mich sieht. Der kleine Schingel hat sich in die Decke eingerollt.
Lachend laufe ich mit der Tasse in der Hand zu ihm, stelle sie ab und setze mich im Schneidersitz zu ihm.
Seinem Hundeblick kann ich einfach nicht widerstehen.
Sofort kuschelt er sich an mich, sein leicht lockiges Haar kitzelt an meiner Brust und ich fahre mit der rechten Hand hindurch.
"Bist noch müde?" frage ich liebevoll, er schüttelt den Kopf.
"Nein, aber du mit hier im Bett ist viel schöner."
Leise lache ich, muss ihm aber zustimmen.
"Irgendwann verbringen wir einfach einen ganzen Tag lang nur im Bett. Versprochen."
Er nickt, seine Augen leuchten kurz auf und es scheint ihn zufriedenzustellen.

"Kartoffeln schälen und in mundgerechte Stücke schneiden" besagt das Rezept.
"Schatz?" sage ich und laufe mit einer Kartoffelecke ins Wohnzimmer, wo Tommi mit dem Laptop auf der Couch sitzt und arbeitet.
Mit kurzer Verzögerung wendet er seinen Blick von Bildschirm ab und sieht mich fragend an.
"Ist das mundgerecht?" will ich wissen und halte ihm die Kartoffel vor die Nase.
"Keine Ahnung." 
Er zuckt mit den Schultern, grinst dann und öffnet den Mund.
Ich muss lachen, füttere ihn und warte auf seine Einschätzung.
"Passt so" nuschelt er mit vollem Mund und nickt.
Nachdem er heruntergeschluckt hat, gebe ich ihm einen kurzen Kuss, laufe zurück in die Küche und schneide sie etwas kleiner.

Zwischendurch bringe ich Tommi seinen dritten Kaffee und gewinne damit zum dritten Mal gegen mich selbst.

Leicht skeptisch beobachter er mich, wie ich die Pfanne rezeptgetreu mit Kokosmilch ablösche und noch ein Rest übrig bleibt.
"Erinnert mich an das, was ich mit Hazel und Thomas gekocht habe." sagt er und greift nach der leeren Dose.
"Hazel hat ihren Thomas und ich meinen." kann ich nicht zurückhalten und sehe ihn bewundernd an. 
Er setzt an und trinkt den Rest aus.
"Nicht dass, du dich schneidest." sage ich leicht unbehaglich.
"Dann kann ich deine wunderschönen Lippen gar nicht küssen."
"Jaja Papa." lacht er und grinst, ein weißer Kokosmilchbart ziert dabei seine Oberlippe.
Ich küsse meinen Freund, dabei befreie ich ihn mit einer geschickten Zungenbewegung von seiner weihnachtlichen Gesichtsverzierung.
Er lacht, was ziemlich niedlich ist.

Mich freut es so sehr, dass er zwei volle Teller verputzt und es genießen zu scheint, dass ich fast vergesse, selbst zu essen.

Auf Verdauungsschnaps und -spaziergang verzichten wir, Tommi setzt sich wieder an die Arbeit.
Wir haben beschlossen, dass er heute Nachmittag wieder nach Hause fährt, weil das die beste Möglichkeit für ein baldiges Wiedersehen ist.
Natürlich tut es mir weh, aber ich weiß auch, dass es so am schlausten ist.

Zeit vergeht so unfassbar schnell und verliert so stark an Bedeutung, wenn man sie mit seinem Partner verbringt.
Ich sitze auf dem Sofa, Tommi zwischen meinen Beinen und tippt eifrig wilde Ideen in seinen Laptop hinein.
Meine Beschäftigung liegt darin, seinen Rücken zu massieren, ihn zu streicheln und ihm ab und zu Küsse auf den Nacken zu geben.
Ich schaffe es nicht ganz, seinen Wunschelkopf weitestgehend in Ruhe zu lassen, obwohl er es gar nicht mag, wenn man die Position auch nur eines Haares verändert.

Einen Teil seiner Arbeitszeit habe ich auch einfach nur den Kopf auf seinen Rücken und die Arme um seinen Bauch gelegt und genieße mit geschlossenen Augen seine Existenz.

Nach mehreren Stunden finde ich, dass er genug gearbeitet hat und ziehe ihn mit in eine liegende Position.
"Warte. Ein Wort noch." sagt er leise und spannt die Bauchmuskeln an.
Mehr oder weniger geduldig warte ich, bis er den Laptop weggestellt hat und schließe dann fest die Arme um ihn, als er auf mir liegt.

Mit geschlossenen Augen höre ich seiner Atmung zu und streichle seinen Kopf.
"Sollten wir uns 'nen Wecker stellen?" fragt Tommi, auch er erkennt wohl die Bedrohung, dass wir einschlafen oder zumindest die Zeit vergessen.
Ich nicke und greife nach meinem Handy, nur, um das Nötigste zu tun.

"1 Stunde 9." informiere ich ihn.
"In dieser Zeit könnten wir 147 Slacklines durchschneiden." witzelt er und lacht über sich selbst. 
"Das sind rund 2,13 Slacklines pro Minute."
Sinnlose Ergänzung, wie ich finde.
"Bis dahin können wir genauso gut noch viel mehr kuscheln und rummachen." sage ich wehleidig und drücke ihn fester an mich.
"Das ist eigentlich viel zu wenig Zeit." murmelt er.
"Stimmt. Und dafür redest du zu viel." entgegne ich und lege meine Lippen auf seine.

Bestimmt eine halbe Stunde können wir uns einfach nicht voneinander lösen.
Drehen uns hin und her, unsere Hände wandern an alle möglichen Körperstellen, mal liege ich oben, mal er. 
Manchmal liegen wir auch nur fast regungslos nebeneinander und hängen mit langen, intensiven Küssen die Emotionen des anderen nach.

Immer wieder muss ich lächeln, gleichzeitig kneife ich die Augen zusammen, um nicht zu weinen.
Ich will ihn nicht loslassen.
Aber die Zeit scheint desto schneller zu rennen, je mehr ich diesem hinterhertrauere.

Mit den ruhigeren Minuten gelingt es mir, den Fakt, dass sein Kopf friedlich auf meiner Schulter ruht, vollständig zu genießen und die Gedanken auszublenden.
Sein Arm liegt um meinen Oberkörper, ich streiche über seinen schlanken Rücken.

"Kann ich deinen Geruch in meine Tasche packen und mitnehmen?" fragt er schließlich leise, schon fast schüchtern.
Ich muss lächeln.
"Wonach riech' ich denn?" will ich wissen, weil man den eigenen Duft oft einfach nicht wahrnimmt.
"Gut." lautet die Antwort, wenige Sekunden später bemerkt auch Tommi ihre Gehaltlosigkeit und wir müssen lachen.

Unsere Körper sind eng umschlungen, ich spüre beinahe jeden Millimeter von ihm. Und jeden dieser Milimeter genieße ich genauso wie jede Sekunde mit ihm. Seine gleichmäßige Brustkorbhebung und -senkung, sein sonores, regelmäßiges Atmen beruhigt mich.

Der Wecker klingelt und reißt mich aus meinem schlaflosen Traum.
Eigentlich mag ich seinen Ton sehr, er ist angenehm. Aber das, was er nun verkündet, gefällt mir absolut nicht.
"Wir müssen los." flüstere ich und drücke leicht in seine Hüfte.
Grummelnd stimmt Tommi zu und erhebt sich träge. Das Gesicht, aus dem er mich ansieht, ist müde und zeknittert.
Ich muss lachen und gebe ihm einen Kuss.
"Ich werd' dich vermissen."

Natürlich trage ich seine Tasche auf dem Weg nach unten und zum Auto. 

Die Tasche, in die ich extra noch eine kleine Portion meiner Bodylotion und eine Dose meines Deos gepackt habe.
Die Tasche, die er zum Gleis dann selbst tragen muss, weil ich es nicht schaffe, ihn ohne einen Kuss aus dem Sichtfeld zu verlieren und das am Bahnsteig zu auffällig wäre.

Ich stelle mich extra hinten in die äußerste Ecke des Parkhauses, dass wir uns in Ruhe verabschieden können.
Ich lehne mich Richtung Beifahrerseite und gebe ihm einen Kuss, der von Traurigkeit und Glücksgefühl zugleich erfüllt ist.
Dass ich in der Annahme, dass es der vorerst letzte sein wird, falsch liege, realisiere, als ich auf die Uhrzeit über dem Tacho schaue.
"12 Minuten haben wir noch."

Den Blick geradeaus gerichtet greife ich langsam nach seiner Hand und drehe das Autoradio etwas leiser.
Mit geschlossenen Augen sitzen wir nebeneinander einfach nur da, nur der Sound macht die Musik, wir sagen nichts.
Zwei Lieder vergehen, bis mich das Gefühl ereilt, dass er mich nun wirklich verlassen muss. Mein Tommi.
"Pass auf dich auf. Bau keine Scheiße. Wir sehen uns bald wieder." verspreche ich und öffne die Augen.
Zeitgleich drehen wir unsere Köpfe zueinander und legen unsere Lippen aufeinander.

Der Abschiedskuss ist immer der, der am meisten wehtut.
Auch noch, als ich eine halbe Stunde später immernoch regungslos in meinem Auto sitze und gegen die Wand starre, hallt er schmerzhaft auf meinen Lippen nach.

Platzierte, verkopfte, elegalante Gemischtes Hack Story Where stories live. Discover now