#122 Um Kopf und Dödel

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!!!Triggerwarnung Essstörung & Therapie & Depressionen!!!

"Aber es ist doch nicht nur das, oder?" fragt Felix vorsichtig, weil er seinen Freund kennt. Er versucht, sich so sensibel wie möglich an das Thema heranzutasten.
"Ich hab' Angst vor dem Kauen. Trinken geht. Aber wenn ich Essen kaue, habe ich so ein schlechtes Gewissen.
"Okay, verstehe."
Eine kurze Pause entsteht, in der sich Tommi sicher ist, dass Felix ihn auf keinen Fall vollumfänglich verstehen kann. Er überlegt, ihm zu widersprechen, als Felix sich selbst korrigiert.
"Also, ich verstehe es nicht wirklich. Also ich kann es nicht nachvollziehen. Irgendwo ergibt es Sinn, aber rein rational ist das natürlich....dumm." sagt er und Tommi bleibt nichts anderes übrig, als ihm zuzustimmen.
"Ich habe dann halt das Gefühl, mit einem Bissen viel zu viele Kalorien zu mir genommen zu haben, auch wenn's nur eine Gurke ist. Thomas Spitzer hat mal im Podcast erzählt, dass, wenn man am Tag unter 1000 Kalorien ist, das so ist, als würde man gar nicht essen. Ich hab das nie überprüft, sondern mich nur da reingesteigert und an vielen Tagen verfolgt."

Felix nickt. Diese Folge hatte er auch gehört, kann aber, im Gegensatz zu Tommi, ganz gut die Tragweite einer solchen Information in seinem Leben einschätzen.
"Also der Sport-Ernährungs-Felix sagt dir jetzt mal ganz ehrlich: 1000 Kalorien ist dumm. Also wirklich kontraproduktiv. Du nimmst zwar ab, ja. Aber lange hältst du das nicht aus, wenn du keinen Tag einlegst, an dem du das wieder ausgleichst. Also besser gesagt, dein Körper hält das nicht aus und du klappt zusammen." Der Neuköllner beendet seinen Satz und hofft, dass Tommi nicht gleich dazwsichengrätscht. Er wirft dem wieder schmaler gewordenen Mann einen ernsten Blick zu.
"Und das will ich nicht. Du wahrscheinlich auch nicht, oder?"
Tommi schüttelt seinen Kopf. "Nein." sagt er leise.

"Außerdem, das muss ich jetzt noch kurz beenden, baust du so langfristig Muskelmasse ab und dadurch nimmst du schlechter ab. Nur so. Ich will mich mit Ernährungswissenschaften jetzt nicht um Kopf und Dödel irgendwie reden, aber ich fand wichtig, dass du das weißt. Seit wann zählst du eigentlich Kalorien? Ich hab dich noch nie dabei erwischt."
"Eigentlich habe ich mich dazu gezwungen, keine Kalorien zu zählen aber manchmal fällt mein Blick unterbewusst auf die Zahlen und dann fange ich an zu rechnen und zu überlegen." gibt er kleinlaut zu. Felix ist der Meinung, dass das sofort aufhören muss.

Sie gehen ein Stück weiter, um sie herum kilometerweit Feld und irgendwo dazwischen Diego. Tommi hat ein ganz gutes Gespür dafür, wo sich der Hund gerade befindet. In diesem Moment sehnt sich Felix eine Bank oder zumindest eine Mauer herbei. Er ist es nicht gewohnt, ewig auf einem unebenen Weg, der durch Traktorspuren entstand, zu laufen und nicht alle paar Meter eine Pausenmöglichkeit zu haben. Aber das geht hier leider nicht. Und er wird sich auch nicht in die Wiese oder in den Dreck setzen.

"Felix? Da ist noch was." beginnt Tommi wieder. Felix nickt. Einerseits, weil er wusste, das nicht alles ausgesprochen ist und weil er ihn damit auffordert, weiterzusprechen.
"Du hattest in einer Folge mal erzählt, dass die erste Mahlzeit, also das Frühstück, die Ausschüttung von Wachstumshormonen aus der Schlafphase beendet. Die tragen aber dazu bei, dass man abnimmt. Und naja...du kennst meinen Kopf."
Felix schluckt. Vor seinem inneren Augen spielen sich die unzähligen Szenen ab, in den unzähligen morgendlichen Situationen, in denen Tommi einfach kein Frühstück essen wollte, obwohl sein Magen seit dem Tag vorher geknurrt hatte.
"Ich wollte es dir eigentlich nie sagen, weil ich nicht will, dass du das Gefühl hast, Schuld zu sein oder etwas dazu beigetragen zu haben. Nur mein dummer Kopf ist Schuld."

So gerne würde Felix dem Mann neben sich jetzt einen liebevollen Kuss auf die Haare geben, der sagt "Alles wird gut." und "Es tut mir so leid.", auch, wenn er immernoch größer ist als er selbst. Aber das geht leider nicht. Er hält es für unangebracht.

"Kriegst du das mit dem Psychologen einigermaßen kontrolliert?"
"Ja, schon. Ich habe das aber, mit einigen Einbrüchen, an vielen Tagen auch ganz gut selbst geschafft." antwortet Tommi selbstreflektiert und lächelt stolz. "Aber mit ihm habe ich es geschafft, von meinen irrationalen Regeln wegzukommen."
"Welche Regeln?" will Felix wissen.
"Ich habe so ganz komische Regeln für mich selbst. Nicht frühstücken, nichts nach 16 Uhr und dann nicht mehr als eine Portion Abendessen. Nichts alleine essen. Nichts Süßes."
"Klingt nach sehr viel Verzicht." überlegt Felix laut.
"Hm, für mich war es ja der perfekte Plan. Manchmal haben die sich so ergeben, dass ich gar nichts gegessen habe."
Felix schluckt. Gab es Tage, an denen sie zusammen waren, an denen er nichts gegessen hat? Eigentlich hat er immer ein Auge auf Tommis Essverhalten und immer einen ermahnenden Blick parat, wenn die Antwort auf die Frage nach Mahlzeiten mal wieder "Nein" war. Hat er ihn vernachlässigt? Nicht richtig beachtet? Sich zu wenig gekümmert? Die Problematik zu spät erkannt?

Ein lautes Bellen reißt Felix aus seiner Gedankenspirale. Als er seinen Blick wieder scharf stellt und nach links richtet, sieht er, wie Tommi dem Hund ein Leckerli gibt und ihn streichelt.
"Und wie genau dealst du jetzt mit diesen Regeln? Und was ist der Ansatz?"
"Also, ich versuche, jeden Tag mindestens eine Regel zu brechen und es mir immer weiter abzugewöhnen, das als schlimm und Weltuntergang zu empfinden."
Felix nickt einsichtig. Das klingt wirklich ernsthaft gut für ihn.

"Sehr schön. Das bedeutet, dass du heute noch mindestens eine Regel brechen musst. Wobei, das klingt so negativ. Einfach vergessen?"
"Klingt besser, ist aber deswegen nicht einfacher." sagt Tommi und lächelt milde. Diego gräbt sich mit den Vorderpfoten in die Erde.
"Ich weiß, aber das schaffst du. Deine Mutter hat doch bestimmt noch mindestens eine Mahlzeit für heute eingeplant, oder? Mach's für sie."
Tommi nickt. So richtig überzeugt ist er noch nicht, aber vielleicht wird es ein Abendessen.

"Was hast du während der ganzen Zeit gemacht?" fragt Felix dann, weil er ernsthaft interessiert ist.
Sie schildern sich gegenseitig von den vergangenen Monat und denken das gleiche: "Untypisch für ihn."
"Und...hast du in der Zeit was mit jemand anderem gehabt?"
"Ist das ernst gemeint?"
"Naja, also wir hatten ja schon viel Sex und Intimität. Und vielleicht hat dir das gefehlt... vielleicht hat dir eine Frau gefehlt...oder ein anderer Mann." sagt Felix kleinlaut.
"Nein, wirklich nicht. Daran habe ich nicht mal gedacht. Dafür ging's mir viel zu scheiße."
Felix nickt zustimmend. In seinem Bauch fängt es wieder an zu ziehen. Gerne würde er Tommis Hand nehmen, traut sich aber immernoch nicht. Diego bellt, weil er irgendwas gefunden hat.

"Naja, und dann wäre da noch ein Thema: Warum zum Fick hast du einfach mein Auto genommen?!"

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