#86 Elegalant

592 22 14
                                    

21. November 2020

Er ist ein ambivalenter Weiner.
Entweder leise, still, vor sich hin, fast unauffällig.
Oder laut, schluchzend, zitternd, fast exzentrisch.
1993 hatte er die Todesanzeige ausgeschnitten, krumm und schief, weil er damals gerade mal gestaltlose Linien schneiden konnte. Er wollte das jedoch trotzdem unbedingt selbst machen. Seitdem bewahrt er sie immer in der gleichen Schublade auf.
Jetzt kramt er sie mit zittrigen Fingern heraus, hält sie fest, verkrampft seine Hand, ließt ihren Namen und dreht den Kopf sofort weg, beißt sich auf die Lippe, schließt die Augen.
Das Weinen lähmt ihn.
Es tut immernoch unglaublich weh, obwohl es 27 Jahre her ist.
Für seinen Geschmack eine viel zu lange Zeit.

Behutsam legt er die graue Anzeige, die vom Tod von Ursula Lobrecht zeugt, wieder auf den Schrank und atmet tief ein, hört nicht auf zu zittern.

Er weiß noch genau, wie sie lacht, auch, wenn er damals noch sehr klein war.
Beklommen holt er sein Handy aus der Hosentasche, gibt seinen Code zwei Mal falsch ein, öffnet nach dem dritten Mal seine Galerie, den Ordner mit den Lieblingsbildern und scrollt nach unten, tippt auf ihr Foto.
Auf seinem Handybildschirm wirkt sie immernoch so lebendig, obwohl ihm das Gegenteil bewusst ist.
Eine Träne landet auf ihrem hellen Oberteil, Felix lässt sich unkontrolliert gegen die Wand fallen und sieht seinem verheulten Gesicht entgegen. Der Kopf knallt nach hinten.
Sein Körper wird von einem Heulanfall erschüttert.

In diesem Moment betritt Tommi das Wohnzimmer und legt die Arme um Felix' Schulter, dieser die Arme um seine Hüfte. Tommis Hand findet Platz an Felix' Hinterkopf, er lässt sich gegen ihn fallen. Sein Freund hält ihn fest, umschließt ihn, gibt ihm Geborgenheit.
"Ich bin da." flüstert er und streichelt beruhigend über seinen Hinterkopf. Gemeinsam atmen sie tief ein- und aus, sodass Felix von seinem Zittern langsam wieder in einen normalen Rhythmus kommt.
"Du bist so unglaublich tapfer, mein kleiner Tiger." sagt er und wischt Felix sanft über die Wange und damit die Tränen ab. Sie laufen seine Hand herunter, Tommi ignoriert das und schüttelt sie kurz ab.
Er nimmt Felix' Gesicht in seine Hände, streicht mit dem Daumen über seine Wange und gibt ihm einen kurzen, sanften Kuss.

Der Kölner weiß um den Zustand, in dem sich sein Freund gerade befindet. Er erlebt diesen nicht zum ersten Mal. Trotzdem zerreißt es ihm wie jedes Mal das Herz.
"Wollen wir uns einfach ins Bett legen?" schlägt er vor, flüstert nur. Felix nickt schwach und lässt dann wieder den Kopf gegen Tommis Schulter fallen. Er streicht ihm über den Rücken und atmet gleichmäßig.

Nach einigen Minuten beruhigt sich Felix wieder und sie bewegen sich gemeinsam langsam in Richtung Schlafzimmer.
Während sich Felix wie paralysiert gegen den großen Schrank fallen lässt, zieht Tommi sein Oberteil aus und lässt es achtlos neben das Bett fallen, legt sich auf den Rücken und beobachtet seinen Freund.
Dieser greift nach dem Pullover, knüllt ihn zusammen und riecht daran.
Tommi meint, ein annähernd glückliches Lächeln auf seinen Lippen erkennen zu können.
Kraftlos lässt sich Felix auf das Bett fallen, was er trägt, ist ihm dabei egal. In dem T-Shirt und der Jogginghose kann er ruhig schlafen. Er dreht sich auf den Bauch, sodass er auf Tommi liegt, sein Kopf in seiner Halsbeuge, er vergräbt sein Gesicht, um seine Gedanken zu ersticken.
Tommi legt beruhigend seine Arme um Felix' gut gebauten Oberkörper und streicht darüber.
Es hätte sich für ihn nicht gelohnt, den Pullover anzulassen, den Felix jetzt in seiner rechten Hand hält und mit dem er zusätzlich kuschelt, da er eh nach fünf Minuten wieder triefend nass von Felix' unermüdlichen Tränen gewesen wäre.

22. November 2020

Perspektive Felix Manuel Lobrecht

Zutiefst ratlos und gedankenversunken stehe ich vor meinem Kleiderschrank. Ich besitze eigentlich viele Klamotten, jedoch scheint mir heute jedes Outfit unpassend. Sollte ich Schwarz tragen? Immerhin ist Totensonntag, ich verbringe den halben Tag auf einem Friedhof und übergebe einen Grabkerzenautomat. Andererseits fahre ich danach zu meinem Vater und meine Mutter wollte nie, dass wir zu sehr in Trauer versinken, wie er immer erzählt hat. Nur leider kann ich ihr nicht einmal diesen Wunsch erfüllen.
Dieser Tag wird noch schwerer als der gestern.
Irgendwie freue ich mich, gleichzeitig hängt ein gewichtiger Trauerschleier darüber.
Ich bin müde, weil ich die ganze Nacht nicht geschlafen habe, es ist noch ziemlich früh morgens und ich muss jetzt ganze fünf Stunden Auto fahren. Wenigstens kann ich mich dabei ablenken. Hoffentlich.

Platzierte, verkopfte, elegalante Gemischtes Hack Story Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt