#92 Ans Revers

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26. November 2020

Triggerwarnung Krebs, Tod

Mein lieber Felix.
Ich habe immer gehofft, dass du diesen Brief nie lesen musst.
Dass ich ihn nie schreiben muss.
Aber ich glaube, es ist besser so. Du kommst so besser damit zurecht.
Heute ist der 23.12.1992, morgen wirst du vier Jahre alt.
Papa und ich packen gerade dein Geschenk ein.
Du spielst mit Julian und Sophie drüben Autorennen.
Ich musste mich jetzt kurz hinsetzen, mein Körper macht nicht mehr mit.
Vorgestern habe ich die zweite Krebsdiagnose bekommen.
Ich glaube nicht, dass du wirklich verstehen kannst, was das bedeutet.
Wir haben versucht, es euch zu erklären.
Spätestens jetzt, wo du diesen Brief liesst, wirst du wissen, was es bedeutet.
Es tut mir leid, Felix.
Ich wollte das wirklich nie.
Aber ich glaube, das hier kann dir helfen.

Dein Vater sollte dir diesen Brief in die Hand gegeben haben ab dem Moment, an dem ihr wisst, dass ich dir den Krebs vielleicht vererbt habe.
Julian und Sophie bekommen auch so einen Brief, sollte der Fall eintreten.
Unwahrscheinlich ist es leider nicht.
Das tut mir unendlich leid.
Und ich will nicht, dass es dir genauso gehen wird wie mir.
Das hier wird wahrscheinlich mein letztes Jahr.
Das letzte Mal Sommer, das letzte Mal dein Geburtstag, das letzte Mal Weihnachten, das letzte Mal Silvester.
Bitte genieße deine Zeit, schätze sie wert.
Die, die du schon hattest und die, die dir noch bevorsteht.
Egal, wie viel oder wenig es ist.
Ich weiß nicht, wie alt du jetzt bist.
Wie lange ich schon tot bin.
Ich hoffe, dass du gut zurecht kommst.
Ich hoffe, dass du glücklich bist, Felix.
Ich hoffe, dass ihr in der Familie ein gutes Verhältnis habt. Euer Vater und ihr. Ihr untereinander.
Es tut mir leid, dass ich nicht dabei sein kann.

Vielleicht muss auch Papa dir diesen Brief vorlesen, weil du zu jung bist.
Und er weint.

Er hatte ihm den Brief wortlos gegeben.

Du weinst.

Seine Mutter kennt ihn besser als jeder andere.

Aber das ist okay.
Du darfst weinen, Felix.
So viel und so oft, wie du willst.
Egal, was andere sagen.
Ich weine auch gerade.
Papa auch.
Er nimmt mich in den Arm.
Ihr lacht drüben.
Ihr seid so unbeschwert, so frei.
Ich hoffe, du behältst dir das.
Ich mag das sehr an dir.
Das zeichnet dich aus.

Krebs tut weh.
Im Herz und im Körper.
Krebs ist ein Schicksal.
Niemand kann sich aussuchen, wen es ereilt.
Es bleibt uns nur übrig, so gut es geht damit umzugehen.
Und ich bin mir sicher, du schaffst das.
Du bist stark.

Ich bitte dich, vor allem ab jetzt auf deinen Körper zu achten und zu hören.
Keine Unnormalheiten zu ignorieren, allem auf den Grund zu gehen.
Das ist wichtig, glaub mir.

Ich bin traurig, dass ich dir das alles nicht persönlich sagen kann.
Ein Diktiergerät wäre schön, können wir uns aber nicht leisten.
Auch eine Filmkamera haben wir nicht.
Aber ich glaube, Sophies Stimme wird so klingen wie meine.

Tatsächlich hat er die ganze Zeit die Stimme seiner Schwester im Kopf.
So gerne würde er mit ihr reden, Fragen stellen, Witze erzählen wollen.

Ich würde dir so gerne helfen, dir alles erklären, die Welt zeigen, dir Tipps geben.
Ich kann dir auch nicht versprechen, dass ich für dich da bin, wenn ich tot bin.
Weil ich es nicht weiß.
Ich würde gerne in die Zukunft schauen können.
Aber das kann ich nicht, leider.
Ich kann nicht alles.
Auch, wenn ich es oft gerne würde.
Dein Papa kann auch nicht alles.
Er sitzt neben mir am Tisch.
Er hält sich den Kopf.
Bitte mach es ihm nicht schwer.
Hilf ihm, so gut du kannst.

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