56 - Gift

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Cress schleppte sich durch die Dunkelheit der Zeltstadt, vorbei an den hungrigen Augen der Schlaflosen und dem Husten der Kranken.
Die Schreie der Menge, die sich um die Kreideringe am äußersten Rand des Lagers versammelt hatten, wehten über die schmutzig weißen Planen bis hier herüber. Irgendwo weinte ein Kleinkind. Es war kälter hier, als in der Stadt. So kalt sogar, dass Cress wieder Julians dunkle Armeejacke trug. Der Rücken der Jacke war so zerfetzt, dass das dunkle HighTec Material hindurch schimmerte. An dem Tag, an dem Mattia gestorben war, wäre auch Cress tot auf dem Dach eines Wolkenkratzers gelegen, wenn sie nicht diese Jacke gestohlen hätte.

Im Gehen zog sie sich den Ring des Schatzmeisters vom Finger, fädelte ihn wieder auf ihre Kette und verbarg ihn unter ihrem Hemdkragen. Ein alter Mann, der heimlich ein paar zweifellos gestohlene Kastanien röstete, zuckte zurück und fiel beinahe über sein eines glühendes Holzscheit, als sie vorbei ging. Funken stoben, während die blutbefleckte Farblose weiterzog. Sie beugte sich hinunter, um die Zigarette anzuzünden, die sie durch ihren Sieg im Ring gewonnen hatte. Dann ging sie weiter, musste sich das Husten verkneifen, als der Rauch ihren Rachen verbrannte. Sie hatte nie ernsthaft angefangen zu rauchen, weil sie ihre Lungen zum Singen und Atmen brauchte. Doch diese Zigarette, die ihre Belohnung dafür war, dass sie Belle heute im Ring besiegt hatte, schmeckte ausgezeichnet. Oder zumindest bildete sie sich das ein, als sie rauchend, mit aufgeschlagener Lippe und erfüllt von dunkler Befriedigung durch das Elend und den Gestank der Zeltstadt steuerte.

Der Weg von der Klippe, über die sie auch heute Nacht wieder in das Flüchtlingslager hinuntergestiegen war, zurück auf die andere Seite der Stadt aus Stoff und Heringen war beschwerlich, wenn man gerade eine gehörige Tracht Prügel eingesteckt hatte. Das Blut auf ihrem Kinn war inzwischen angetrocknet, obwohl sie sich bemüht hatte, es abzuwischen. Belle hatte ihr so fest in den Magen getreten, dass ihr immer noch übel war, als sie letztendlich ihr Ziel erreichte und Maries Männer ihr in den Weg traten. Cress wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und stützte die Arme in die Seite.
Als sie die Plane des größten Zelts weit und breit aufschlug und sich in das Lazarett schleppte, half Marie gerade einem völlig zugedröhnten blonden Mann mit soeben versorgter Platzwunde beim Aufstehen. Magda, die kleine brünette Assisstentin, die Cress illegalen Ausflug vor einer gefühlten Ewigkeit an Marie verraten hatte, übernahm den desorientierten Junkie, als Marie sich der Diebin zuwandte und einmal mehr ihre Plastikhandschuhe zur Seite pfefferte.

„Ich hoffe, du hast Geld dabei", grüßte sie Cress, während sie zu einem Wasserhahn hinüber ging und sich die Hände wusch, „Umsonst flicke ich keinen zusammen, der dämlich genug ist sich im Ring zu schlagen."
Cress ließ den Blick über die vielen Leintücher schweifen, die im Zelt aufgehängt worden waren, um die Patientenbetten voneinander zu trennen. Jemand hustete heftig. Magda tauchte irgendwo zwischen zwei Betten wieder auf.
Ihre Hände waren blutiger als die der Diebin.

„Ihr habt wohl größere Probleme", Cress ließ sich auf einen einsamen Hocker sinken, während Marie eines ihrer Kräuterbüschel von der Wand nahm und die Kordel aufschnitt. Die Tollkirschen hingen noch genau dort, wo Cress sie bei ihrem letzten Besuch bemerkt hatte. Unschuldig, als hielten sie sich selbst nur für ein weiteres Büschel Salbei.
Marie nickte grüßend einem höchstens zehnjährigen Mädchen zu, das gerade mit einem Tablet an Cress vorbei gehen wollte. Das Kind stellte vorsichtig einen Becher vor Cress auf der Tischplatte ab, bevor sie mit der dampfenden Kanne tiefer in das Zelt hinein verschwand, um anderen dieselbe Freundlichkeit zu Teil werden zu lassen.

„Ein Fieber", Marie begann das Heilkraut mit einem Mörser zu bearbeiten, „Viele infizieren sich. Es ist nicht unbedingt schlimm, aber die Schwächeren haben teilweise schwere Verläufe. Mach' dir keine Illusionen, Schattenvogel, wenn du im Ring kämpfst, hast du es wahrscheinlich schon."
„Wie schlimm?", Cress wischte sich über die Stirn und musterte besorgt die weißen Leintücher. Wieder hustete jemand.
„Nicht so schlimm, dass ich mir für den richtigen Preis nicht deine Rippen ansehen würde."
Marie kam herüber und bedeutete Cress, ihre Jacke auszuziehen.
Die Kälte fuhr ihr unter die Haut, als sie den schweren schwarzen Stoff abnahm und sich das T-shirt über den Kopf streifte.

„Ist jemand gestorben?", fragte die Diebin, während Marie ihren Brustkorb untersuchte. Cress zog scharf die Luft ein, als die Heilerin auf eine besonders schmerzhafte Stelle drückte. Noch waren die Flecken unter ihrer Haut rot, doch Cress wusste, dass sie schon bald indigoblau anlaufen würden. Wie ironisch.
„Bis jetzt noch nicht in meiner Gegenwart. Ich bezweifle allerdings, dass sich alle zu mir trauen."
„Die anderen?"

Cress hatte schon bei ihrem letzten Besuch bemerkt, dass nicht nur Maries Zirkel aus Helferinnen anwesend war.
Der alte Mann, der für den Karobuben heilte, wählte genau diesen Moment, um irgendwo zwischen den weißen Segeln aufzutauchen und sofort wieder zu einem andern Patienten zu verschwinden. Zumindest was die Heiler anging, hatte es eine entscheidende Veränderung gegeben. Niemals hätte jemand gewagt auch nur vorzuschlagen, dass die Gilden ihre Ressourcen in dieser Hinsicht vereinen könnten. Was für seltsame Zeiten.

„Wir haben ein paar, die es vielleicht nicht durch die Nacht schaffen", gab Marie zu, jedoch in einem Tonfall, der vermuten ließ, dass sie das eventuelle Ableben ihrer Patienten hochgradig persönlich nahm. Wieder drückte sie fester zu, als nötig, sodass Cress zurück zuckte und einen Fluch ausstieß.
„Nicht gebrochen", war alles, was sie von Marie bekam, „Ordentlich geprellt, aber nicht gebrochen."
Cress verzog erneut vor Schmerz das Gesicht und schluckte ihr ironisches Großartig deshalb hinunter. Die Heilerin streckte ihr auffordernd eine Hand entgegen, sodass die Diebin ihr einige Münzen über den Tisch zurollte. Der dreiköpfige Höllenhund der Valeria zierte jede der kleinen Messingscheiben, die Marie in ihre Tasche gleiten ließ.
Cress nahm noch einen Schluck von ihrem Tee.

„Wirklich schön, diese hier", Marie rollte eine der Münzen zwischen den Fingern, „Nur schade, dass es so wenige davon hier gibt."
Cress Misstrauen war geweckt. Langsam stellte sie den Becher ab.
„Nur die Legionäre und du bringen dieses Geld in Umlauf", fuhr Marie fort, „Niemand weiß genau, wie viel es wert ist, aber alle wollen es, weil irgendwo eine ganze Stadt existieren muss, in der diese Münzen schöne Dinge kaufen. Irgendwo hier, unter der Erde, gibt es eine farblose Stadt, die wir nicht sehen dürfen."
Cress stand auf. Sie hatte schon so viele von Maries Fragen mit Halbwahrheiten beantwortet, dass sie richtig gut darin geworden war.

„Danke fürs Zusammenflicken", verabschiedete sich Cress und griff nach Julians Jacke.
"Du gehst nirgendwo hin", knurrte die Heilerin. Cress warf einen Blick über die Schulter.
"Du hast Nerven. Was willst du tun, um mich aufzuhalten? Deine Schatten auf mich schießen lassen, während deine kleine Helferin Tee ausschenkt?"
Maries grüner Katzenblick funkelte über den Tisch hinweg, bevor sie ihn auf den Becher senkte, aus dem Cress getrunken hatte. Die Diebin hatte innegehalten, einen Arm schon im Jackenärmel, als ihr dämmerte, was die Heilerin getan hatte. Marie deutete wortlos auf den Stuhl ihr gegenüber.
„Es wird Zeit, dass wir uns unterhalten", sagte sie, „Du weißt mehr als ich und das gefällt mir überhaupt nicht."
"Du hast mich vergiftet?", fragte Cress ungläubig.

Maries Lächeln war breit und kühl. Sie schob mit dem Fuß den Stuhl zurück, was wohl einladend wirken sollte.
„In etwa dreißig Minuten setzt die Wirkung ein, von der ich dir jetzt schon sagen kann, dass sie dir ganz und gar nicht gefallen wird."
Zornig ließ sich Cress nieder und starrte ihrem Gegenüber in die Augen.
„Du könntest mich umbringen", fauchte sie Marie an.
„Könnte ich", die Heilerin fummelte sich mit dem Zeigefinger irgendetwas zwischen den Zähnen hervor, „Das ist so ein bisschen der Punkt an der Sache."
Brodelnd vor Wut schlug Cress die Beine übereinander. Für einen Moment dachte sie darüber nach, ob Marie bluffen würde und verwarf die Idee beim Anblick des Ausdrucks in den grünen Augen der Farblosen.
Im Dienste des Kreuzbuben verlor man so manche Skrupel. Marie hatte davon ohnehin noch nie sonderlich viele gehabt. Das Lächeln der Heilerin wurde noch etwas breiter, als wisse sie genau, was hinter der Stirn der Diebin vorging.
Cress kickte gegen das Tischbein, was Marie zusammenfahren ließ.

„Du durchtriebenes Miststück", spuckte Cress ihr entgegen, „Was bei den Sternen willst du wissen?"

Smokehands (Skythief pt. 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt