76 - Fall

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Als sie aufwachte, war er fort und gleichzeitig noch überall um sie herum, weil sein Geruch in den Laken hängen geblieben war. Cress war dankbar, dass er sie nicht gebeten hatte, ihn zu der Zeremonie zu begleiten. Sie verabscheute politische Selbstinszenierungen.

Sie duschte, zog sich an und verließ das Zimmer eine halbe Stunde nach offiziellem Beginn der Zeremonie. Als beide Pferde noch in den Stallungen standen, dachte sie sich nichts Großes dabei. Sie brauchte zehn Minuten bis zum Forum, hörte aber die Menge schon, sobald sie aus dem Hof der Valeria Villa galoppierte. Das Volk der unteren Stadt hatte sich in vier langen Reihen vor der Curia postiert. Wachen in den Farben der Valeria sorgten für Ordnung und dafür, dass noch niemand seine Stimme in die Urnen warf, bevor diese eröffnet wurden. Die Stimmung war gut, zweifellos, weil man nach den Wahlen einen flüßigen Übergang zu den Feierlichkeiten machen würde.

Der Adel der Stadt strömte aus der Curia. Wappen, Schmuck und schwere Stoffe. Die reichen Farblosen sammelten sich um ihre Familienbanner. Stolz wie der Orden, alle in den Farben, die sie schon länger trugen, als die Alessandrinis die ihren. Cress hielt sich in der Menge verborgen, lehnte im Schatten einer Säule in der Nähe und ließ die Augen über die Menge schweifen.

Die Valeria verließen die Curia zusammen. Die gesamte Familie stand auf den Stufen vor dem ehrfurchteinflößenden Gebäude, präsentierte sich ihrem Volk. In vollem rot-schwarzen Ornat sahen sie mehr aus, wie die Herren der Unterwelt denn jemals bevor. Hades trug keine Krone auf seinem Haupt, keine künstliche Farbe in seinen Augen oder Haaren und seine Rede war um einiges weniger demagogisch als die des Königs.
Doch Cress hörte kaum zu.

Sie hatte den Blick auf die Tore der Curia gerichtet und schob sich durch die Menge, um dorthin zu gelangen. Wo war Julian? War er aufgehalten worden? Würde er gleich aus der Curia kommen? Ihr war, als könnte sie seine Hände immer noch auf ihrer Haut spüren. Doch die Erinnerung an die letzten Stunden konnte das ungute Gefühl nicht dämpfen, das ihr langsam über die Haut kroch.
Wahrscheinlich ist es nichts, dachte sie, wahrscheinlich will Hades nur, das er einen dramatischen Auftritt macht.

Doch die Rede zog sich, die Menge applaudierte immer wieder und kein Julian erschien. Walsh hatte im Schatten einer der Säulen des Gebäudes Position bezogen. Er trug pechschwarz, als hätten selbst die Valeria ihn nicht dazu bewegen können, für diesen Anlass ihre Farben anzulegen. Er sah nicht so aus, als wolle er, dass die Menge ihn zu Gesicht bekam. Doch trotz Kapuze erkannte Cress ihn sofort.

„Walsh!" Cress wollte sich an den Valeria Wachen vorbeischieben, doch diese versperrten ihr stumm den Weg. Der Tänzer winkte sie zu sich und die beiden Männer hatten keine andere Wahl, als sie passieren zu lassen. Sie eilte die Stufen zu ihm hinauf, während wieder Applaus über den Platz hallte.

„Ihr seid zu spät", grüßte der Spion, „Hades war nicht amüsiert."

„Ihr?"

Der Tänzer runzelte die Stirn. Von einem Moment auf den anderen schoss Panik durch Cress, wie ein Blitz. Sie wandte sich der Menge zu und versuchte ein letztes Mal verzweifelt, Julians Gesicht unter den Menschen zu finden. Sie hoffte so sehr, dass einfach irgendeine überdramatische Show geplant war, in die weder sie noch Walsh eingeweiht waren.

„Er ist nicht bei dir?", der Spion stieß sich von der Wand ab.

„Nein", gab Cress zurück, „Ich dachte, er ist gegangen, um hierher zu kommen."

Hades hob die Hand, um seinem Volk zuzuwinken. Menschen lachten, während die beiden im Schatten der Curia standen und fieberhaft überlegten. Walsh sagte nicht ‚Ich bin sicher, es ist alles harmlos'. Er sagte nicht ‚Vielleicht ist dein Prinz einfach in einem Bordell hängen geblieben. Passiert den besten'. Denn es wurde nicht irgendjemand vermisst, sondern der Mann, der die ganze Stadt niederbrennen könnte. Der Einzige, den die blaue Königin fürchtete, war unauffindbar. Walsh fuhr sich angespannt durch die Haare. Seine Augen huschten von links nach rechts, als würde er eine komplizierte Kopfrechenaufgabe lösen.

„Theseus muss die Furien ausschicken", sagte Cress, „Ich spreche mit ihm."

Sie tat ihr Bestes, um ihre Stimme von ihrem klopfenden Herzen zu distanzieren, doch es funktionierte nicht. Irgendetwas stimmte nicht. Julian, was ist passiert?

„Sag ihnen, sie müssen sofort die Rede abbrechen", sagte Walsh mit einem zutiefst besorgten Blick in Richtung der Valeria, „Sofort. Keine Diskussionen."

Er eilte zum Kapitän der Garde hinunter, während Cress sich aus dem Schutz des Schattens löste und direkt auf die Valeria zuhielt. Achill war der erste, der sie entdeckte. Er stand links von Hades, bewegte sich aber nicht vom Fleck, um ihr entgegen zu kommen. Cress spürte die Blicke der Menge auf sich, als sie einen weiteren Kreis Wachen passierte. All ihre Nackenhärchen stellten sich auf, als man sie durchließ. Cress brachte sofort Abstand zwischen sich und die Wachen, ohne es zu bemerken. Es mussten Furien sein, denn ihre Gesichter waren wie das von Walsh von der Nase abwärts von dunklem Stoff verhüllt. Wer zur Hölle soll Julian suchen, wenn ihr Idioten hier alle nur herumsteht?

Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, während sie auf die Valeria zuhielt. Inzwischen hatten auch Theseus, Orpheus und Aeneas sie entdeckt. Hades sprach immer noch, doch es waren die letzten Worte seiner großen Rede. Er hob die Arme, um die Urnen zu eröffnen. Als der jüngste der Brüder, Daedalus, sich der Diebin zuwandte, war sie beinahe bei ihnen angelangt. In ihrem Augenwinkel flammte Feuer auf. Cress fuhr herum, einen Moment lang erleichtert, weil sie sich sicher war, dass Julian gekommen war. Es war alles nur eines dieser politischen Spielchen. Doch es war nicht sein Feuer.

Cress sah das Unheil dieses Mal nicht kommen. Eine der Wachen löste sich aus der Formation und tippte Hades auf die Schulter, ohne Zweifel, um ihn aus der Gefahrenzone zu eskortieren. Cress war vollkommen machtlos, als der Mann eine Klinge von seinem Gürtel riss. Als der Herr der Unterwelt sich umwandte, versenkte der Mann in den Farben der Valeria die Klinge in seinem Hals. Hades brach zusammen, wie eine Marionette, deren Fäden gekappt worden waren. Der Herr der Unterwelt sank auf die Knie. Ein Schrei ging durch die Menge, als er mit dem Gesicht auf dem Marmor aufschlug und nicht mehr aufstand.

Panik brach aus, doch die Wachen mit dem Zeichen der Valeria hielten die Menge in den Reihen, in denen sie sich vor der Wahl aufgestellt hatten. Die Wachen, dachte Cress hektisch, die Wachen gehören nicht Hades.

Als hätten sie ihre Gedanken vernommen, begannen die Männer, die sie für Furien gehalten hatte, sich aus ihren Positionen zu lösen. Aeneas Valeria wurde von fünf Männern die Stufen hinuntergerissen. Cress riss eines ihrer Messer aus ihrem Ärmel und stellte sich zwei der Männer. Doch sie konnte unmöglich alle übrigen Valeria beschützen. Ein paar wenige Soldaten waren den Valeria treu und hatten sich vor ihre Herren geworfen. Freund und Feind trug dieselbe Farbe. Es war absolutes Chaos ausgebrochen.

Dann geschah alles so schnell, dass sie im Nachhinein nicht mehr genau wusste, was sie getan hatte. Cress duckte sich unter dem Arm eines Angreifers hindurch, stach ihn nieder, sah, wie Walsh auf sie zu sprintete. Er schrie etwas, doch sie verstand ihn nicht. Alles, was sie hörte, war ihr eigener Atem, als die treue Wache, die vor Achill Valeria gestanden hatte, zu Boden ging.
Cress sah, wie sich Walshs Augen weiteten, als er ebenso schnell begriff wie sie, dass er zu spät kommen würde. Einer der Angreifer holte mit seinem Stilett aus, zielte auf den stolpernd zurückweichenden Valeria.
Cress schlug einem Mann so fest ins Gesicht, dass er alleine davon zu Boden ging. Sie spürte den Schmerz in ihrem Arm nicht einmal, als sie sah, wie sich der Arm des Angreifers anspannte. Und er warf.

Achill Valerias Augen weiteten sich, als er die Klinge auf sich zu rasen sah. Die Welt wurde langsam. Walshs Schrei echote über den Platz, übertönte den Kampfeslärm, während er auf seinen Geliebten zu hechtete, doch er war viel zu weit weg. Die Klinge funkelte höhnisch, der Valeria schloss die Augen, Cress stieß sich mit aller Kraft vom Boden ab ... und der Dolch versank bis zum Heft in ihrer Brust. 

Smokehands (Skythief pt. 2)Unde poveștirile trăiesc. Descoperă acum