34 - Gefährlich und dumm

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Achill ließ zwei seiner Wachen zurück, bevor er sich nach mehreren Minuten umwandte und ging. Weitere Minuten stand Cress da und starrte hinunter, während sie zu entscheiden versuchte, ob sie das Risiko eingehen würde. Dann wandte sie sich den Soldaten zu und deutete mit dem Kinn auf den Dolch, den der eine von ihnen am Gürtel trug.

„Ich muss mich bewaffnen, wenn ich dort hinunter gehe."

Der Mann schüttelte den Kopf.
„Wir sind hier, um Sie zu beschützen, nicht um uns erstechen zu lassen."

Sie schnaubte.
„Wenn ich die Zeichen richtig deute, sind Achill Valeria und ich jetzt beste Freunde. Er hat euch meinen Schutz befohlen? Ich schütze mich am liebsten mit Stahl in meiner Hand."

Sie streckte die Hand aus. Der Mann reagierte nicht.

„Schön", seufzte sie und wandte sich ab, scheinbar geschlagen. Zwei weitere Minuten gab sie sich, um auf die Stadt aus Leintuch hinunter zu schauen. Dann wandte sie sich langsam zu ihren Wachen um, gähnte demonstrativ, bevor sie so schnell nach vorne schoss, dass die beiden vor Überraschung zu langsam waren, um sie zu erwischen.
Rufe folgten Cress, als sie sich mit dem Dolch in der Hand die Strickleiter hinuntergleiten ließ.

Das Seil biss sie in die bloßen Handflächen, aber sie biss die Zähne zusammen, bis sie unten auf dem Fels landete. Sie hob den Kopf, aber die beiden gepanzerten Männer brauchten viel länger, um die Strickleitern herunter zu kommen.

„Wartet hier auf mich. Ist sicher angenehmer", rief sie hinauf.
Während die Wachen fluchten, verschwand Cress zwischen den Zelten des Flüchtlingslagers, nur ein farbloser Schatten, wie all die anderen um sie herum.

Cress irrte durch das Labyrinth aus Zelten. Vorbei an schlafenden Menschen, streitenden Paaren, weinenden Kindern und betenden alten Männern.
So viele verschiedene Gesichter, hinter jedem verbarg sich eine andere Geschichte. Ein Schicksal, das nie von den Sängern erzählt werden würde. Lebensgeschichten, die man vergessen wollte. Menschen, die Dominique ausgelöscht hätte ohne mit der Wimper zu zucken, um ihre Macht zu festigen.

Schwere Traurigkeit machte sich in der Diebin breit, als sie durch die Zeltstraßen streifte.
Auch die Ausgestoßenen atmeten, lebten, weinten, hofften.
Ihr wurde übel, als das Ausmaß der grausamen Ignoranz der Prinzessin mit jedem Schritt und jedem Gesicht, das vorbeizog, bis in ihre Knochen eindrang.

Eine hohlwangige Frau zitterte in der Kälte, weil sie ihren Sohn in die Wolldecke eingewickelt hatte, anstatt sie für sich zu nehmen. Dünne Mädchen mit verfilzten, verlausten Haaren, die nicht schlafen konnten an dem fremden dunklen Ort, spielten mit Kieselsteinen und sahen verschreckt auf, als Cress an ihnen vorbeiging.
Gähnende Menschen hatten sich um ein Lagerfeuer versammelt, um einem alten Pfeife rauchenden Mann zu lauschen, der Geschichten erzählte. Cress blieb einen Moment dort stehen, gerade außerhalb des Feuerscheins.

Geschichtenerzähler hatten die Macht, den Geist zu befreien, auch wenn der Körper gefangen war.
Ohne sie wäre diese Welt ein noch unglücklicherer Platz.
Owen war einer von ihnen gewesen. Sie vermisste ihn, sobald sie den Ausdruck auf den Gesichtern der erwachsenen Menschen sah, die dem alten Mann lauschten. Genau so hatten auch die Augen der Kinder geleuchtet, die die Gilde rekrutiert hatte. In diesen kostbaren Momenten, in denen die reale Welt verblasste und die Fantasie auf Wanderschaft ging.

Erst nach einer Minute begriff Cress, welche Geschichte er ihnen erzählte. Er erzählte von der Vogeljagd.
Von der Diebin, die die Hohe an der Nase herumführte und den Caz Kristall Sarg stahl.

Der alte Mann traf ihren Blick, erkannte sie natürlich nicht und winkte ihr, sich zu setzen, ohne seine Geschichte zu unterbrechen. Sie hatte nicht gewusst, dass Farblose gütige Augen haben konnten.
Cress zog sich mit gemischten Gefühlen in die Schatten zurück. Diese Menschen sah sie normalerweise nicht. Vielleicht, weil die grausamen Menschen lauter waren, gesehen werden wollten. Vielleicht, weil sie selbst zu den grausamen Menschen und nicht zu den Gütigen gehörte. Dabei waren die Menschen, die ohne Blut an ihren Händen überlebten, die besseren Überlebenskünstler.

Smokehands (Skythief pt. 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt