35 - Tollkirschenfrau

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Maries Lazarett war genauso seltsam und von Widersprüchen gezeichnet wie sie selbst.
Kräuter hingen von den Wänden, Bandagen und Fläschchen säumten die Klapptische, die man ihr hingestellt hatte. Aber auch steril verpackte Kanülen, noch mehr Plastikhandschuhe und Infusionsbeutel lagerten dort.
Teure medizinische Ausstattung, die man im farblosen Bezirk niemals zu Gesicht bekommen hätte.
Die Heilerin setzte Teewasser auf, während Cress sich umsah.

„Hier", ein nasses Handtuch flog auf Cress zu. Aufgekratzt, wie sie es nach dem Kampf immer noch war, fing sie es ohne Probleme auf. Die Diebin setzte sich auf einen Hocker, legte den Dolch nieder und begann im Schein der Öllampen, die das Zelt erhellten, das Blut von Fingern und Gesicht zu waschen.
Jemand wimmerte hinter einem Vorhang. Als Marie hinter selbigem verschwand, erhaschte Cress einen Blick auf die Feldbetten dahinter.
Auf einem von ihnen musste der Fremde liegen, der versucht hatte, sie zu erstechen.
Sie wischte sich unwillig die feinen Blutspritzer aus dem Gesicht und wünschte sich, dass sie das Schuldgefühl gleich mit wegwischen könnte.

Ein Bündel Tollkirschen, das unschuldig zwischen den anderen Kräutern von der Wand hing, stach Cress ins Auge. Es schien ein Sinnbild für Maries ganze Existenz zu sein. Auf den ersten Blick sah sie harmlos aus, fast wie ein Kind, das sich in einem Malkasten gewälzt hatte und bunte Perlen im Haar trug.
Dass man nicht nur vor der besten Heilerin, sondern auch vor der besten Giftmischerin der Außenbezirke stand, fiel den meisten erst auf, wenn es zu spät war und die Tollkirschenfrau bereits in Erscheinung getreten war.

Marie kam einen Augenblick später zurück und zog den Vorhang zu. Ihre Haare lockten sich in der kühlen Luft, als sie die Hände in die Hüften stemmte und Cress im schummrigen Licht ihres Zelts aus schmalen Augen betrachtete.

„So", sagte sie dann bedrohlich, „Du tauchst auch mal wieder auf. Die Sterne wissen, wo du dich den letzten Monat rumgetrieben hast."

Die Diebin seufzte.

„Habe ich deine Machtübernahme gestört?", fragte Cress undeutlich durch das Handtuch, das sie sich an die bereits stark anschwellende Unterlippe presste.
Marie hatte sich zusätzliche Wächter zugelegt und niemand in der Menge hatte Anspruch darauf erhoben Cress doch noch auszubeuten, was wohl auf den Einfluss der Heilerin zurückzuführen war. Es war durchaus logisch, dass dieses machthungrige Wesen sich in einer zeit solcher Veränderungen zu neuen machtpolitischen Ambitionen aufschwang. Die Heilerin zog sich einen Schemel herüber und setzte sich in einem Schwall aus Perlen und buntem Stoff.

„Ich stelle hier die Fragen, Schattenvogel. Wo bei der Sternschuld meiner Mutter bist du die letzten Wochen gewesen?!"

Cress nahm das Handtuch von ihrer Lippe und presste es sich mit geschlossenen Augen an die Schläfe, um den hämmernden Kopfschmerz zu besänftigen, der dort gerade eingesetzt hatte.

„Im Kern", sagte sie trocken, „was dachtest du denn?"

Marie schnaubte.
„Natürlich, Schattenvogel. Ich bin da auch jedes Wochenende. Die Cocktails sind super."

„Marie", knurrte die Diebin, „ich war wirklich im Kernbezirk. Ich habe den Fall des Sterns gesehen."

Stille breitete sich im Zelt aus, was wirklich unwahrscheinlich war, wenn man sich mit einer geladenen Marie in einem Raum befand. Cress linste durch ihre Wimpern, um das zutiefst geschockte Gesicht ihres Gegenübers für immer in ihren Erinnerungen abzuspeichern.

„Erinnerst du dich an den Typ, den ich zu dir gebracht habe? Der abgehauen ist?"

„Ja", machte Marie, die plötzlich etwas verkrampft wirkte, „wage. Hatte ansehnliche Bauchmuskeln."

Cress senkte unwillig den Kopf, als ihr auffiel, dass die Heilerin Julian nackt gesehen hatte und sie selbst nicht.
Ein hässlicher Schuss Eifersucht durchzuckte sie.
„Hm hm", machte die Diebin, „das war der Kronprinz."

Smokehands (Skythief pt. 2)Where stories live. Discover now