62 - Berechnung

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Das heilige Blut auf dem Sand der Arena war noch warm, als sie Chelestes leblosen Körper in die Höhe hielten und der tobenden Menge präsentierten.
May weinte nicht mehr. Der Schock, der Jubel, alles wusch über sie hinweg, ohne sie mehr als nur flüchtig zu streifen. Ihre Welt war zusammengeschrumpft auf die Frau mit dem goldenen Haar, die auf ihrer Chiaselongue residierte, wie eine antike Kaiserin.

Statt Blut zierten goldene Ringe ihre milchweißen Finger, aber May wusste, dass sie den Mord an Cheleste befohlen hatte. Jede Sekunde des Leids der Ordensdame hatte sich diese Farblose auf der Zunge zergehen lassen, wie silbernen Zucker. Sie würde leiden für das, was sie Cheleste angetan hatte. May würde dafür sorgen, dass diese Frau schrie wie Cheleste.

Als sie sich näherte, sah die Löwin sie nicht einmal an, winkte nur nachlässig mit der Hand. Doch bevor ihr Wächter sie packen konnte, zog Julian sie am Handgelenk zurück.
Er war so ruhig geblieben im Angesicht dieser Hinrichtung. Nur seine verspannten Muskeln verrieten, dass er ebenfalls kurz davor war, der goldenen Frau an die Kehle zu gehen. Cress Cye war stumm und düster wie immer. Ihre Augen verfolgten jede Bewegung der Soldaten.

Wie freie Menschen standen sie in der Königsloge dieses grotesken Amphitheaters, als würden sie zu dem farblosen Hof gehören, der soeben Cheleste ermordet hatte. Von der Farblosen hatte sie nicht unbedingt etwas anderes erwartet – aber Julian ... Ihr Blick ruhte auf dem Königssohn, mit dem sie vor scheinbar unendlich langer Zeit so widerwillig getanzt hatte.
Wie konnte er einfach hier stehen? Was hatten sie mit ihm gemacht?

„Wie konntet Ihr nur."

Mays Stimme war zu einem Flüstern verkommen und doch ließ sich nun selbst die Herrin des Blutvergießens dazu herab, sie anzusehen.

„Nimm es nicht persönlich, Kind", Helena von Avescus setzte sich auf und schlug die langen Beine übereinander, „Der Zweck heiligt die Mittel, wie man so schön sagt."

„Und was genau", grollte Julian, „War der Zweck dieses Manövers Eurer Ansicht nach?"

Er hatte sich verändert, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Er stand gerader, war ruhiger geworden, ernster. In dieser Loge strahlte nicht nur die goldene Frau rohe Macht aus.

„Welche der Katastrophen, die ihr gerade heraufbeschworen habt, war Euer Ziel? Welche habt ihr als Kollateralschaden abgetan? Welche habt ihr außer acht gelassen?", gurrte er und schaffte es dabei mehr interessiert als abgestoßen und erschüttert zu klingen. Bevor May ihn bei ihren gemeinsamen Verbrechen näher kennengelernt hatte, hätte sie ihm seine Worte und seinen herablassenden Tonfall sofort abgenommen. Helena kräuselte die Lippen.

„Prinz, ist Euch jemals aufgegangen, dass Eure Arroganz einer der Hauptgründe ist, weswegen ich Eure Anwesenheit so erfrischend finde?"

Julian ließ sich nicht beirren. May sah ihm an, dass ihm die Situation genauso wenig gefiel wie ihr selbst. Sie war sich schon sicher, dass er sie alle nicht in diese Situation manövriert hatte, als er den Blick von ihr abwandte.

„Wie viele habt Ihr erwischt?", fragte er in die Totenstille hinein. Schock und Unglauben legten sich auf Mays Züge. Was tat er?

Helena blinzelte nur. Die beiden sahen sich an, zwei Königskinder verfeindeter Nationen. Geboren in Gold, gehärtet in Schmerz und bereit, für ihre Ideale blutige Opfer zu bringen. Wie lächerlich geschichtsträchtig.

„Bitte?", fragte die Löwin. May schwor sich, ihr die Ringe von den Fingern zu reißen und sie daran ersticken zu lassen. Doch sie war noch nie jemand gewesen, der seine Wut offen an den Tag legte. Sie war ein stiller grauer Himmel, wo Julian rauschendes Feuer war.

„War sie alleine?", fragte Miaserus Sohn heftig. Die Gläser auf dem Tisch klirrten, als er sich darauf stützte und die Löwin anfunkelte. Sie antwortete nicht. Cress, May und Julian tauschten einen Blick. May war entsetzt, Cress scheinbar gleichgültig, Julian so wütend, dass er Hitze auszustrahlen schien.

Smokehands (Skythief pt. 2)Where stories live. Discover now