1 - Finsternis

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Die Dunkelheit war sein Freund geworden in den letzten Wochen. Sein Freund, sein Feind, seine Geliebte.
Seit sie ihn alleine in der Zelle gelassen hatten, hatte die Welt aufgehört, sich zu drehen.

Julian kauerte in der Finsternis hinter dem Vorhang, der die Märchenstadt verbarg und fragte sich, wieso sie die Diebin von ihm getrennt hatten. Wieso sie May nicht zu ihm gesperrt hatten.
Selbst der alte Mann, für den Cress gesungen hatte, war verschwunden. Nur er und die Dunkelheit.
Seit Wochen.

Er hatte sich nicht gewaschen oder rasiert, hatte in einen Eimer gepinkelt und auf dem Boden geschlafen.
Aber das schlimmste war, dass sie ihn mit seinen Gedanken alleine gelassen hatten. Verlassen in der Dunkelheit waren die gnadenlosen Bilder seine einzige Gesellschaft.

Eine Chemikerin, die einen Genozid plante.

Eine Prinzessin, die einen blutigen Mord beging.

Ein König, der sich das Leben nahm.

Und ein Prinz, der floh, wie ein Feigling.

Cress hatte ihn Feigling genannt.
Sie hatte erkannt, was er unter der Uniform, unter der Plasmakrone wirklich war. Feigling.

Er vergrub das Gesicht in den Händen, starrte mit offenen und geschlossenen Augen auf den dunklen Filz, der ihm die Sicht auf das Wunder dahinter verwehrte.
Eine zweite Stadt, wunderschön ohne die hell erleuchteten Grenzen zwischen den Farbbezirken. Ehrwürdig, alt und geheim.
Unter der Erde verborgen, wie ein perfektes Juwel.

Hatte sein Vater davon gewusst? Wenn ja, dann war er so klug gewesen, es niemandem anzuvertrauen. Niemandem. Nicht einmal seinem Erben.

Oft summte er in der Dunkelheit das Lied vor sich hin, das Cress für den alten Schatzmeister gesungen hatte. Er hatte sich eine Klavierbegleitung überlegt.
Zehn verschiedene Variationen.
Aber seine Finger trommelten nur auf den Fels des Bodens und nicht auf das Elfenbein der Tasten seines Flügels.

Ob er je wieder das Tageslicht sehen würde?

„Guten Morgen", sagte eine männliche Stimme, warm wie flüssiges Gold.

Julian hob den leeren Blick und starrte den Fremden an, der den Vorhang zur Seite gezogen hatte.
Er hätte gerne geflucht, gerne geschrien. Aber er blieb still, wie die Finsternis um ihn herum.
Der Mann war ungefähr so groß wie Julian, jung und blond mit aristokratisch hohen Wangenknochen.
Seine Haltung stolz.
Ein blutroter Umhang fiel von seinen breiten Schultern auf den Fels des schmalen Stiegs vor den Zellen.
Er rümpfte die Nase nicht, als ihm der Gestank der Gefangenschaft entgegenschlug.
Der Fremde war farblos.

„Mein Name ist Achill Valeria."

Julian schnaubte nur. Er kannte Männer wie diesen.

„Ich würde gerne mit Euch sprechen, Kronprinz."

Immer noch ließ sich der Gefangene nicht dazu herab, zu antworten.

Achill Valeria wartete, als hätte er alle Zeit der Welt.
Ungewöhnlich geduldig für einen Adligen. Oder das, was für die Farblosen in dieser Stadt als angesehen galt.

Als der ehemalige Kronprinz die Stimme erhob, war sie rau wie Sandstein nach der langen Zeit, die er stumm auf kaltem Fels gesessen hatte.

„Wo habt ihr sie hingebracht?"

„Zurück zu den Medici. Sie hat schwer gelitten. Sie schläft noch und das wird sie noch, bis das Gift ihren Körper vollkommen verlassen hat."

Julian wurde schwindelig, als er auf die Beine kam, wovon er sich aber nicht aufhalten ließ.

Smokehands (Skythief pt. 2)Where stories live. Discover now