41 - Klangkörper

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Als er sich an das stumme Instrument setzte und die Finger federleicht auf die Tasten legte, schloss der Prinz die Augen. Wie oft hatte er sich in der Dunkelheit einen Flügel gewünscht. Wie oft hatte er sich gewünscht, die Begleitungen für Cress Lied spielen zu können, die er sich ausgedacht hatte. Es war wie der zweite Atemzug, nachdem man aus dem Wasser auftauchte. Der erste, der erlösende, der lebensrettende Atemzug, das war Cress gewesen, die durch die Flammen zu ihm in die Arena sprang.
Sie schloss die Tür zu dem kleinen abtrennbaren Raum mit dem Flügel, als sie ihm folgte.
Er spürte ihre Aufmerksamkeit fast physisch, als sie neben ihm stehen blieb, während der Tänzer taktvoller Weise vor der Tür wartete. Zumindest hatte Julian seine Schritte nicht gehört.

Er atmete ein, er atmete aus und dann begann er zu spielen.
Vor den Fenstern lag die Piazza in ewiger Dunkelheit, während die Bibliothek von dem goldenen Licht der schummrigen Leselampen und den Klängen eines leicht verstimmten Klaviers erfüllt wurde.
Die Wut, der Schmerz, sein Hoffen und seine Verzweiflung flossen ineinander, wurden zu einem reißenden Strom, der alle Gedanken aus seinem Kopf schwemmte und nur die Emotionen zurückließ.
Julian spielte wie ein Wahnsinniger. Schumann, Opus 12, Nummer zwei. Leicht wie eine Brise und schwer wie ein Herbststurm schallten die Töne aus dem schwarz lackierten Instrument. Die Hämmerchen kitzelten die Seiten, oder schlugen auf sie ein.
Er spielte ohne Noten, spielte ein Stück, das er das letzte Mal in seinem Zimmer gespielt hatte nun auf dem Flügel der öffentlichen Bibliothek einer Stadt, von der er nicht gewusst hatte, dass sie überhaupt existierte. Seine Hände flogen über die Tasten, so schnell, so getrieben und dann wieder sanft wie eine Liebkosung.
Er ließ das Klavier Tonläufe in Dur seufzen und ließ es ohne mit der Wimper zu zucken einen Moment später in Fortissimo Dezimen hageln. Vielleicht wären die Tasten irgendwann unter seinen Fingern zersprungen.

Die Augen halb geschlossen, die Finger tanzend, brach sich alles Bahn. Zwischen fremden Büchern saß er und spielte, als wäre der Teufel hinter ihm her. Dabei glaubten die meisten Menschen in dieser Stadt, dass er selbst der leibhaftige Teufel wäre.
Er ignorierte den Schmerz in seiner Brust, blendete für ein paar Momente alles um ihn herum aus, bis auf die schwarz-weiße Tastatur vor sich und die Perfektion der Musik, die er ihr entlockte.

Erst, als die Diebin von hinten die Arme um seinen Hals legte, wurde er langsamer.
Sie roch nicht mehr nach seiner Seife. Wahrscheinlich roch er nicht einmal mehr danach. Sie trug auch kein Parfum, wie es all die Mädchen getan hatten, mit denen er auf den Bällen getanzt hatte. Vielleicht trug das auch dazu bei, dass sie sich so echt anfühlte. Als wäre die Welt um sie herum nur ein Bild, etwas Künstliches, ein etwas zu bunter Gedanke.

Julian schloss die Augen, als sie ihren Kopf sanft an seinen lehnte, ihre Wimpern seine Schläfe kitzelten. Sie ließ ihn zu Ende spielen, während sie so nahe beieinander waren, dass er jeden ihrer Atemzüge hören konnte. Seine Eigenen waren zu einem Keuchen verkommen, während er Akkorde in das Klavier prügelte. Dann, ganz langsam, während ihr Herz gegen seinen Rücken schlug, begann er sich zu beruhigen.
Sein Spiel wurde bedachter.
Bis der wütende Schumann in die erste Variation ihres Liedes gipfelte, sanft wie ein Windhauch.

Sie atmete ein, als sie das Lied erkannte, überrascht. Und dann begann sie mitzusummen, ganz leise während sie ihn hielt.
Er hatte sie vermisst, die Musik, und er hatte diese Frau vermisst mit jeder Faser seines Wesens und jedem bisschen Verstand, das seine Seele noch zusammenhielt. In diesem Moment, hatten sie beide wieder zu ihm zurückgefunden.
Ob er das verdient hatte?

Erst, als seine teilweise noch gestauchten und gebrochenen Finger sich letztendlich zitternd auf die Tasten legten, ohne sie noch ein weiteres Mal hinunter zu drücken, bewegte sie sich wieder. Er starrte immer noch auf die Tasten, versucht, den letzten Akkord noch einmal zu spielen, nur um ihn noch einmal durch seine Seele vibrieren zu fühlen. Wie lange hatte er gespielt?
Wie oft hatte er das Stück bereits wiederholt?
Julian schloss erneut die Augen, während ihn bleierne Müdigkeit durchflutete. Seine Verletzungen und der Weg von der Festung bis hier hinunter forderten ihren Tribut.

Cress Nasenspitze kitzelte seine Wange, bevor sie ihm eine Träne von der Haut küsste. Als er aufsah, versuchte sich Julian zu erinnern, wann ihn das letzte Mal jemand so angesehen hatte. Sie pflückte seine rechte Hand von der Tastatur und verschränkte seine Finger mit ihren. Zwei blaue Vögel fanden zueinander. Sie war immer noch da. Sie hatte ihm versprochen, dass sie ihn nicht verlassen würde. Und anscheinend hatte sie nicht vor, das zu tun, obwohl er ein weinendes, bemitleidenswertes Wrack geworden war.

„Nicht einmal Klavierspielen kann ich, ohne dass mir alles weh tut", flüsterte er mehr zu sich selbst, als zu ihr. Sie presste ihre Lippen und ihre Nase an seinen Hals, sodass ihre Haare über seine Schulter nach vorne fielen und ihn kitzelten.

„Bald", versprach sie leise, „bald tut es nicht mehr weh. Und bis dahin lege ich mich gerne mit dem Arzt an."

Er seufzte, müde, aber ruhiger als zuvor. Löste auch die zweite Hand von den magischen Tasten. Sie sahen sich an und er fragte sich, womit genau er jemanden wie sie verdient hatte, bei all den schlechten Dingen, die er getan hatte.

„Ich danke dir."

Sie kam noch näher, bis er ihren Atem auf seinen Lippen spüren konnte und sie ihn letztendlich - endlich - küsste.
Langsam. Vorsichtiger als es je jemand getan hatte. Die Hand mit dem blauen Vogel unter sein Kinn gelegt, während seine Hände an ihre Taille fanden und sie zu ihm herunterzogen.
Die Welt drehte sich, die Naht sandte bei jedem Atemzug kleine Schmerzensblitze durch seinen Oberkörper und seine brennenden Finger vergruben sich in ihrem Haar. Sie war alles geworden.
Das einzig nicht künstliche Ding in seinem Leben. Und sie war immer noch da, um ihn aufzufangen, obwohl er so unendlich nutzlos geworden war. Eine Farblose, die einen blauen Prinzen rettete. Jemand sollte eine Geschichte darüber schreiben und sie in diese Bibliothek stellen.

„Ich wünschte, ich könnte dir den Schmerz nehmen", sagte sie irgendwann leise, „alles davon."

Er wusste nicht, ob sie auch geweint hatte, oder ob es seine Tränen auf ihren Wangen und Lippen waren.

„Tust du doch", antwortete er, den Kopf auf ihrem Scheitel, „du bist immer noch da."

„Worauf du dich verlassen kannst", sie löste sich aus seiner Umarmung, „Ich bin da und ich lasse nicht zu, dass sie dir noch einmal weh tun."

Sie lächelte. Und auch, wenn er es nicht schaffte, zurückzulächeln, fühlte er sich ein wenig weniger leer als zuvor. 

Smokehands (Skythief pt. 2)Where stories live. Discover now