15 - Trost

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Er dachte zuerst, er würde halluzinieren.
So etwas geschah mit Menschen, die zu lange alleine in der Dunkelheit saßen und auf ihren Tod warteten doch normalerweise. Sie wurden wahnsinnig, sahen Dinge und hörten Stimmen.
Er wollte es ignorieren, wollte sich umdrehen und weiter vergeblich versuchen, zu schlafen, weiter Steinchen an die Wände werfen und das Innenleben der Matratze zerpflücken, das hier und da aus dem Stoff hervorquoll, wie Eiter. Aber als es lauter wurde, setzte er sich auf.
Er war sich selten in seinem Leben so sicher gewesen, dass etwas real war.

Julian hatte Musik vermisst in seinen vielen dunklen, leeren Stunden. Also stand er auf und ging zu den Gitterstäben seiner Zelle hinüber, lehnte sich hinaus, um nicht einen Ton zu versäumen.
Wer sang in der ewigen Stille der leeren Zellen um ihn herum?
Zwei von Kimmys Männern eilten vorbei, aber sie waren nicht beschäftigt genug, um ihm nicht noch einen groben Stoß zu versetzen. Leise wie eine Sommerbrise und gleichzeitig klar und sauber wie ein Wintermorgen hallte eine einzelne Stimme zwischen den Felsen wider. Sie sang das ein Lied, das er nicht kannte. Ein Wiegelied vielleicht, sanft und wogend. Mit so einer Stimme könnte man die schwersten Arien singen und doch sang sie ein Wiegelied. Er starrte in die Dunkelheit und lauschte der Melodie, vergaß für ein paar Momente, wo er war und was ihm bevorstand. Er wünschte sich ein Klavier oder eine Geige, um den Mezzosopran der Sängerin zu begleiten. Zu Schade, dass er nie wieder spielen würde.

Er fuhr sich durch die Haare, als sich die Tonlage änderte. Und erstarrte, als er Cress Stimme letztendlich erkannte. Jedes Härchen in seinem Nacken stellte sich auf, als er hinausstarrte.

Sie konnte singen.

Sie sang für ihn.

Schauer, von denen er nicht wusste, ob sie angenehm oder schrecklich waren, jagten über seine Haut, während sich das Lied in die Höhe schraubte, sie von vorne begann und dabei immer wieder von der Melodie abwich. Das eigentliche Talent kam zum Vorschein, strahlend hell, wie eine aufgehende Sonne. Er ließ sich in Cress Stimme fallen, schloss die Augen und verlor sich in ihren Improvisationen auf die Melodie des Wiegelieds.

Es ging ihr gut.
Sie hatte ihn nicht verraten, war kein Teil der riesigen Verschwörung, die hier vor sich ging.

Er hätte weinen können, presste sich die Hand vor den Mund und rang nach Luft. Immer noch tanzten Töne durch seinen Kopf, der Text unverständlich, aber die Musik deswegen nur umso schöner.
Die Diebin war so gut, dass sie wahrscheinlich sogar an der winzigen musikalischen Fakultät des Kernbezirks aufgenommen worden wäre.

Oktaven, Terzen, Tonsprünge und klare Liegenoten zogen an ihm vorbei.
Hatte man sie die ganze Zeit dort eingesperrt gehabt?
Wusste sie überhaupt, dass er sie hörte?
Sie könnte es höchstens vermuten.

Er sank auf die Knie, presste die Stirn gegen eine der Metallstreben und lauschte, bis er die Melodie kannte und mitsingen konnte. Er war kein großer Sänger, aber wäre seine Kehle nicht so zugeschnürt gewesen, hätte er zurückgesungen.

Sie war noch da. Sie hatte immer noch eine Chance, umgeben von anderen Farblosen, von ihrem eigenen Volk. Was auch immer dieser Tag bringen würde, er würde ihr Lied haben, um sich daran festzuklammern.
Er hatte nicht gedacht, ihre Stimme noch einmal hören zu dürfen.

Erst, als sie mitten im Refrain verstummte, sickerte die Dunkelheit zurück in seine Gedanken.

Was hatte sie unterbrochen?

Hatte man sie niedergeschlagen?

Tat man ihr weh?
Alleine bei dem Gedanken, wie Kimmy sie durch die Gitterstäbe anlächelte, wurde ihm schlecht. Er konnte nur hoffen, dass sie sicher war. Es machte ihn wahnsinnig, dass er nicht sie gewählt hatte, sondern May, nur um die Wahrheit doch nicht auszusprechen.

Er hätte noch einmal mit Cress sprechen sollen. Stattdessen hatte er sich selbst nur einmal mehr bewiesen, wie richtig sie gelegen hatte, als sie ihn Feigling nannte.

Und doch war es in ihm nicht mehr so dunkel wie zuvor.

Cress Lied hatte ein Flämmchen in ihm entzündet, das sich stur gegen die Dunkelheit sträubte. Als sie den zum Tode verurteilten holten, um ihn in die Arena zu bringen, tanzte diese Flamme immer noch in seinen Augen.

Smokehands (Skythief pt. 2)Where stories live. Discover now