71 - Ufer und Strömung

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Die Straßen der Stadt waren von tausend Kerzen und Lampions erhellt, doch unten am Flussufer war es beinahe stockfinster. Sie kam nur in schwarzer Unterwäsche aus dem Wasser, ganz ohne Scham, als hätte sie ihm bereits erlaubt, jede Einzelheit ihres Körpers kennenzulernen. Oder, als würde es sie nicht mehr interessieren, dass er sie ansah.
Cress wich seinem Blick nicht aus, als sie nach dem Hemd griff, das er ihr hinhielt. Er bemühte sich um Ruhe, um die Kälte, die er sonst so mühelos an den Tag legte. Sterne, er hatte schon so viele Frauen nackt gesehen. Keine von ihnen war Cress gewesen. Sie zog sich neben ihm um und er starrte auf das schwarze Wasser und bemühte sich, nicht daran zu denken, wie weich ihre Haut unter seinen Händen gewesen war. Als sie wieder ihre Hose trug und das Hemd nachlässig zuknöpfte, hatte sie immer noch kein Wort gesagt. Er fragte sich, ob er nicht einfach wieder gehen sollte.

„Du hast mir aufgelauert", knurrte sie und schlug die etwas zu langen Hosenbeine hoch. Die glatten Steine um ihre Füße waren nass, als hätte man sie geradewegs aus dem Fluss gezogen.

„Verzeih mir", bat er leise.

Sie warf ihr nasses Haar nach hinten und sah zu ihm hinunter. Er hob den Blick von der Erde und ließ ihn an ihr hinauf wandern, bis er ihr Gesicht fand.

„Ich wollte dir nicht weh tun", sagte er ehrlich, „Ich verstehe, dass du mich egoistisch findest. Aber ich konnte nicht zulassen, dass du denkst, ich respektiere Menschen ohne Farbe nach wie vor nicht. Ich bin nicht mehr der, den du im Palast kennengelernt hast, Cress Cye. Wie könnte ich das auch? Du hast mich verändert. Mehr, als du denkst."

Cress biss die Zähne zusammen.

„Ich kann das nicht ohne dich", flüsterte er ruhig, ohne den Blick abzuwenden, „Ich brauche dich, wenn ich gegen meine Schwester und alle anderen bestehen soll. Wir können über alles reden, was dich an meinen Einstellungen verärgert und daran arbeiten. Aber Cress – wenn du mich alleine lässt, dann weiß ich nicht, wie lange ich standhalten kann. Wir müssen zusammenarbeiten. Bitte."

Er hatte so lange darüber nachgedacht, was er zu ihr sagen würde und doch kamen ihm seine Worte fahl vor. Fast rechnete er damit, dass sie ihn alleine ließ. Als Cress sich neben ihm auf die Steine fallen ließ, atmete er erleichtert aus.

„Das heißt nicht, dass wir fertig sind mit der Sache", knurrte sie. Er war so erleichtert, dass es ihm nicht egaler sein könnte.
Eine Weile saßen sie schweigend da und starrten auf den dunklen Fluss hinaus. In der Ferne schwankten Lampions, Musik wehte über die dunklen Fluten zu ihnen herunter. Julian lehnte sich zurück und stützte die Hände auf die glatten Steine. Er schloss für einen Moment die Augen und genoss die Stille, die nun nicht mehr schwer und unerträglich war, wie zuvor. Zusammen schweigen, wenn die ganze Welt im Chaos versank wurde nicht annähernd hoch genug bewertet.

„Hades fürchtet schon lange einen Bürgerkrieg", murmelte er nach einer Weile, „Vielleicht bekommt er noch einen. Die Farblosen von der Oberfläche sind in Aufruhr. Er wusste, dass er seinen Hintern auf ein Pulverfass setzt, wenn er sie rettet. Ohne Achill hätte er es vermutlich niemals getan."

„Achill hat es für Walsh getan", bemerkte Cress leise, „Er hat Freunde im farblosen Bezirk. Er hat sich dafür eingesetzt, dass man ihnen hilft."

„Ach ja?", Julian schien beeindruckt, „Ich dachte nicht, dass sich unser Freund um viel mehr als sich selbst kümmert."

Cress schmunzelte, aber nur kurz.
„Anscheinend hat Walsh mit den Hearts trainiert."

Julian hob überrascht eine Augenbraue.
„Hat er dir das gesagt?"

Cress schnaubte.
„Natürlich nicht. Achill hat es mir gesagt."

Julian schüttelte bedächtig den Kopf.
„Ich denke mir immer wieder, dass Nana Rouge zu sehr gefürchtet wird für eine so alte Frau. Doch jeder Mensch, von dem ich ernstlich denke, dass er mich im Schlaf erstechen könnte, hat im Laufe seiner Karriere mit ihr trainiert."

Smokehands (Skythief pt. 2)Where stories live. Discover now