6 - Blutlust

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„Und damit lautet das Urteil schuldig."

Julian war erschüttert bis ins Mark. Schuldig. Er hätte damit rechnen müssen, hätte vorbereitet sein müssen. Schuldig.

Die Richterin sah ihn einfach nur an, als wäre es ihr völlig gleichgültig, dass sie einen Unschuldigen zum Tode verurteilte.

„Ich habe nichts getan, was dieses Urteil rechtfertigen könnte, Euer Ehren", knurrte er, die Arme angespannt und gegen das Holz seines Stuhls gepresst.

Er hatte das Dominiques gestörten, menschenfeindlichen Plan nicht unterstützt. Er hatte alles getan, hatte sich selbst in die größte Gefahr gebracht, um sie aufzuhalten. Nun war es nicht nur umsonst gewesen, nein, es würde ihn auch den Kopf kosten. Er war ein jämmerlicher Versager. Kaum zu glauben, dass er jemals dazu bestimmt gewesen war, über die letzten Menschen zu herrschen.

Man mahnte ihn, zu schweigen, aber schlimmer konnte es schließlich nicht mehr werden.

Er sprang auf, viel dünner und fahriger, als er es noch vor ein paar Wochen gewesen war.

„Befragt die Diebin. Befragt die Hohe. Beide werden Euch meine Unschuld bestätigen und dieses Urteil nichtig machen."

„Sowohl Cress Cye, als auch May Silencia sind selbst angeklagt und deswegen nicht dazu befugt, auszusagen", schaltete sich der Advocatus ein.

„Schwachsinn!", fuhr Julian auf.

Entsetzte Blicke durchlöcherten ihn.

Die Richterin legte die Fingerspitzen zusammen.

„Zweifelt ihr das Gericht an, Julian d'Alessandrini-Casanera?"

Er atmete zu schnell, Pupillen geschwollen von dem Adrenalinstrom, der durchs einen Körper jagte.

Sie würden ihn umbringen.

„Ja, Euer Ehren, ich zweifle dieses Gericht an, wenn es verblendet genug ist, so ein Urteil zu fällen."

Zischen, Kopfschütteln und Seufzen ging durch die Zuschauer in den Schatten. Der Prinz erkannte seinen fatalsten Fehler aber selbst nicht, bis die Richterin sich erhob. Ihre kühlen, berechnenden Augen strahlten noch heller, als der weiße Kragen. Diejenigen, die an dem Tisch gesessen hatten, erhoben sich als Zeichen des Respekts ebenfalls. Selbst Hades stand auf, gefolgt von seinen Söhnen.

„Dann folgt mir bitte", sie hob das schwarze Buch vom Tisch, als würde sie den Strick aufheben, mit dem man ihn hängen sollte, „Die zweite Instanz in der Rechtsprechung dieser Stadt kann ein Veto gegen dieses Urteil aussprechen, wenn sie es für richtig hält. Sie wird den Ausgang dieses Prozesses maßgeblich bestimmen."

Erleichterung durchflutete Julian. Er hatte noch eine letzte Chance. Noch ein bisschen mehr Zeit, bevor die Farblosen ihm den Strick um den Hals legen würden.

Doch als er den Blick der Richterin wieder traf, fand er darin nichts außer kühler Berechnung. Sie glaubte nicht daran, dass man ihr Urteil angreifen würde.

Zwei Wächter führten ihn hinter der Richterin her hinüber zu den Marmorsäulen, die sich hell und glatt von der rauen, dunklen Felswand dahinter abhoben.

Mit jedem Schritt wurde das Donnern lauter.

Die Umrisse eines Tores waren so kunstfertig in den Stein gehauen worden, dass er sie von seinem Sitzplatz aus nicht bemerkt hatte.

Der Boden unter seinen Füßen vibrierte. Der Marmor schien zu schwanken unter der Wucht des Donners. Jeden Moment könnte der Jahrmillionen alte Granit unter der Wucht des Dröhnens zerbersten. Zu Staub zerfallen.

Julian hatte nicht oft Angst um sich selbst. Um Ana, um Cress, um seine Eltern oder die Kinder, natürlich.

Aber um sich selbst? Er versuchte das Gefühl sogar jetzt zu unterdrücken.

Was war die zweite Instanz?

Ein echter Gott? Ein leibhaftiges Monster?

Persephone trat hinter ihn zurück, man packte ihn an den Armen und bevor Julian noch einen weiteren Gedanken fassen konnte, öffneten sich die Tore und knallten mit einem dumpfen, endgültigen Geräusch an den Granit.

Er war blind und taub, als sie ihn hinaus in das strahlende Licht schleppten.

Der Lärm der Menge riss ihn beinahe von den Füßen.

Man richtete ihn wieder auf, sodass er sich blinzelnd orientieren musste.

Und dann hörte er sie.

Die Schreie. Die Sprechgesänge.

Es mussten tausende, zehntausende, hunderttausende von Menschen sein.

Versammelt unter goldenem, aber kühlem Licht.

Sie wogten auf und ab, alle auf ihn fixiert, Hände und Fäuste in Richtung der Felsendecke weit über ihren Köpfen gereckt.

Blau hatten sie ihre Gesichter bemalt. Und die ihrer Kinder. Als sie ihn sahen, ging ein Aufschrei durch die Menge. Keine Angst. Keine Bewunderung. Nein, Wut. Abscheu und scharlachrote, beißende Wut.

Hunderttausende hatten sich vor den Wasserfällen versammelt. Auf einem riesigen Platz zwischen Brücken, eleganten Dächern und alten Bäumen.

Und sie alle forderten schreiend seinen Tod.

Er bekam keine Luft mehr, als die Blutlust der Menge über ihm zusammenschlug, wie glühendes Gas. Jedes bisschen Zivilisation war von den Menschen in dieser Masse abgefallen. Hass einte sie. Hass gegen ihn. Die Wut auf ihren Gesichtern drang ihm bis ins Mark, verätzte ihn von innen heraus. Sie hassten ihn nicht wegen des Anschlags, der gar nicht gegen sie gerichtet worden war.

Sie hassten ihn, wegen seiner Farbe. Sie hassten ihn, weil er blau war.

Zum ersten Mal seit langem, bebte der Kronprinz vor Angst.

Persephone trat hinter ihm aus der Düsternis des Gerichtssaals, den Kopf hoch erhoben und das Buch mit der Wage darauf vor sich ausgestreckt. Niemand würde sie hören, hier in diesem Chaos.

In dem Wahnsinn, in den die Menschen verfallen waren. Begierig darauf, sich an einem Blauen, an einem Prinz der Blauen zu rächen. Es waren so viele. Auf dem Platz selbst drängte sich Körper an Körper, auf den Geländern der Brücken, auf den Dächern. Persephone hielt keine Rede. Sie kam vorne, an einem weißen Marmorgeländer zum Stehen und hielt das Buch der unechten Sonne entgegen.

Innerhalb von Sekunden vervielfachte sich das Geschrei. Julian taumelte.

Er bekam kaum noch Luft, als er realisierte, was hier geschah.

Die Menge war die richterliche Instanz, die seine Hinrichtung verhindern könnte. Aber das würden sie nicht tun. Ganz im Gegenteil.

Er sah mit Schrecken, wie sich tausende von Armen in die Höhe reckten. Und sie wie bei den alten römischen Spielen mit den Daumen nach unten zeigten, um seinen Tod zu besiegeln.

Smokehands (Skythief pt. 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt