77 - Aufprall

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Der Schmerz ließ die Welt kippen. Die Wucht des Wurfs schleuderte sie nach hinten. Einen Moment lang befand sie sich im freien Fall, hing zwischen Curia und der Menge in der Luft. Dann trafen die Stufen auf ihren Rücken, ihren Hüftknochen, ihren Hinterkopf. Sie schlug auf, überschlug sich und rollte die marmornen Stufen hinunter, bis sie am Fuß der Treppe lag und den steinernen Himmel über sich anstarrte. Sie hatte vergessen, wie man atmete. Cress Sichtfeld schrumpfte zusammen, die Welt verschwamm zu einem fernen Streifen Licht und Stimmen. Nicht mehr lange, sagte sie sich, nur noch ein paar Momente Schmerz.

Ihr Brustkorb stand in Flammen, ihr Körper ein einziger Schmerzensschrei, ihre Gedanken fern wie der Himmel, den sie in den letzten Monaten so sehr vermisst hatte. Der Himmel, den sie vielleicht nie wieder sehen würde. Während Soldaten auf das Forum strömten, riss sich Cress Cye den Dolch aus der Brust und brach vor der Curia zusammen.

Du kennst Schmerz, Kind, hörte sie Nana Rouges Stimme in ihrem Kopf, Du musst lernen, ihn zu ertragen, oder du wirst in den Händen unserer Feinde zerbrechen, wie ein sprödes Stück Holz.

Cress bäumte sich auf unter der Qual, erstickte beinahe an der Pein, sah das Gesicht der roten Mutter über sich, doch es verschwand, sobald sie blinzelte. Nur noch ein paar Momente.

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie blaue Banner zwischen den Häusern auftauchten. Das Wappen der Alessandrinis wurde von bis an die Zähne bewaffneten Reitern auf den Platz getragen, Soldaten mit Plasmawaffen folgten ihnen auf dem Fuße. Panisch versuchten die Farblosen, den Reihen zu entkommen, in denen man sie nach wie vor festhielt. Die Schreie verstummten, als eine Reiterkolonne von Süden her auf den Platz sprengte.
Pferdehufe donnerten über den Asphalt, plötzlich unfassbar laut in der Stille, in die das ganze Forum verfallen war. Schockstarr sahen die Farblosen zu, wie die Reiter zwischen ihren Reihen hindurch und auf die Curia zu preschten. An ihrer Spitze ritt im strahlendsten blau, das Cress jemals gesehen hatte, die letzte Person, die sie alle erwartet hatten.

Julians Schwester trug die Uniform eines blauen Generals, die Krone ihres Vaters und das schneeweiße Haar einer Hohen zur Schau. Cress verfiel in Schock, als sie die Königin mit wehendem Umhang auf sich zu galoppieren sah, versuchte, sich aufzurichten, doch der Schmerz war zu vernichtend. Dominique d'Alessandrini-Casanera kam so knapp vor Cress zum Stehen, dass sie die einzelnen Nägel an den Hufeisen ihres weißen Hengstes erkennen konnte. Zentimeter von Cress Gesicht entfernt trafen die Reitstiefel der blauen Königin auf dem Boden auf. Wie hatte sie es geschafft, die Unterwelt so mühelos zu infiltrieren?

Einen Moment lang war Cress verwirrt, weil es Julians Augen waren, die auf sie hinunterstarrten. Doch Dominiques Gesicht war gnadenlos, fern, unbewegt. Sie musterte Cress, als würde sie ihr wage bekannt vorkommen. Die Diebin sah trotz ihrer immer wieder verschwimmenden Sicht, wie die Königin begriff, dass die Farblose, die ihr verblutend zu Füßen lag, schon neben ihr in der Königsloge gesessen hatte. Als Begleitung ihres Bruders. Die Verachtung, die ihr entgegenschlug, war beinahe körperlich spürbar.

„Was habt ihr mit ihm gemacht?", fragte Cress, doch es war kaum verständlich. Sie hustete und Blut spritzte auf den sauberen Umhang der Königin. Diese hatte innegehalten. Anscheinend war Cress so interessant, dass sie für einen Moment sogar die Valeria vergaß. Dominique ging neben Cress in die Hocke, stützte die Ellenbogen auf die Knie und musterte die sterbende Farblose mit kühlem Interesse.

„Lady Liliane van Laurence", sagte die Königin und es war, als hätte sie Cress mit eiskaltem Wasser übergossen. In der Loge hatte sie so getan, als hätte sie ihren Namen schon nach wenigen Momenten wieder vergessen gehabt – doch nun, als Cress in die Augen der jungen Königin sah, war klar, dass sie mit dieser Annahme weit die Wahrheit verfehlt hatte. Dominique vergaß nichts. Jedes Detail konnte irgendwann zur Waffe werden. Die Stimme der Tyrannin war sanft, als sie weitersprach:

„Ich würde Euch ja fragen, wie es eine Farblose bis in das Herz meines Palasts geschafft hat, aber da ihr immer mit meinem Bruder zusammen wart, muss ich das nicht."

Diese Frau hatte ihren eigenen Vater in den Tod getrieben und ihren Ehemann ermordet. Sie hatte eine Krone an sich gerissen, die ihr niemals zugestanden hatte und nun war sie gekommen, um eine weitere Stadt an sich zu reißen. Sie hatte die Valeria nicht einmal genug geachtet, um sie für eine öffentliche Exekution am Leben zu lassen. Cress spürte den Blick der Herrscherin auf sich und wusste genau, was diese sah: eine Ameise, eine Kakerlake, irgendein winziges, unbedeutendes Wesen, das sie ohne weiteres unter ihren blank polierten Stiefeln zerquetschen könnte, ohne irgendwelche Konsequenzen zu fürchten. Als Cress dieses Mal fragte, was die Königin Julian angetan hatte, legte diese den Kopf schief. Dominique verstand sie trotz des Bluts, dass mit jedem Wort aus ihrem Mund tropfte.

„Nicht viel", antwortete die Königin mit einer leichte Neigung ihres Kopfes, „seine Schuld hat etwas mit ihm getan. Schuld ist ein interessantes Werkzeug."

Dominique lächelte nicht, aber sie sah nun aus, als würde ihr Gesicht kurz davorstehen. Sie las Cress, wie Julian es getan hatte. Nur, dass es sich bei seiner Schwester anfühlte, als würde man ihr Gewalt antun.

„Er hat dir gesagt, dass er den Nocturna Erben umgebracht hat? Dir? Wirklich?"

Die Königin erhob sich und richtete ihren völlig emotionslosen Blick hinauf zur Curia. Cress sah nicht, wie die Soldaten salutierten, doch sie hörte das Rascheln der Uniformen, während Julians Schwester über sie hinweg stieg und die Stufen hinauf schritt, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen. Sie machte sich nicht die Mühe, eine große Ansprache zu halten, wie es ihr Vater getan hätte. Sie hatte es nicht nötig, ihren Sieg auszukosten, weil er so offensichtlich war. Cress verkrampfte sich. Dieses Mal war es Julians Stimme, die in ihrem Kopf widerhallte. So viel sanfter, so viel melodischer, als die seiner Schwester.

Du kennst Schmerz, Cress Cye. Nur noch ein paar Momente.

„Lasst sie liegen", die Königin der letzten Stadt ließ hatte sich noch einmal zu Cress umgedreht, schon halb die Treppe hinauf. Die Diebin sah nur ihre Stiefel und die Ansätze ihres königsblauen Umhangs, „Lasst sie ersticken und nehmt es für ihn auf."

Zwei Soldaten lösten sich aus Dominiques Reihen und kamen zu Cress herüber. Letztendlich schaffte die Diebin es doch, Dominique ins Gesicht zusehen. Die Hohe sah Cress an, wie man einen Schmetterling ansah, dessen Flügel man auf seinem Brett festgepinnt hatte. In diesem Moment wusste Cress, dass Hades recht gehabt hatte: solange Julian in der Stadt gewesen war, hatte Dominique es nicht gewagt, anzugreifen.
Julian, sie hat Julian.

Blut füllte Cress Lunge. Selbst als sie wie ein Stein in die Tiefen des Caz Kristall Sees gesunken war, hatte sie nicht dieses grässliche Gefühl gehabt, zu ersticken.
Nur noch ein paar Minuten.

Dominiques eisblaue Augen waren gnadenlos, als sie hinaus auf den Platz sah und befahl:
„Tötet die anderen."

Smokehands (Skythief pt. 2)Where stories live. Discover now