70 - Schwestern

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Wenn May die Augen schloss, sah sie Flammen. Ihre Albträume wurden von brennendem Stein, brechenden Balken und Schreien zusammengehalten.
Das letzte Mal, als sie so geträumt hatte, war ihr Bruder wenige Stunden später beerdigt worden. Nun gab es keine Asche, die über den heiligen Berg verstreut wurde, doch Alcha und Coria würde in wenigen Tagen der Prozess gemacht werden.

May war nicht so naiv zu glauben, dass er Milde walten lassen würde. Sie hatte erst vor kurzem gesehen, zu was die scheinbar so zivilisierten Farblosen in ihrer noblen Demokratie fähig waren. Sie erkannte dieses fremde Gericht nicht an, hatte selbst nur zu oft Protokoll in einem anderen geführt und seit ihrer Geburt anderen Gesetzen gedient. Auf diesem fremden Boden wurde anders geurteilt.

Keine Farbschranken, keine verschiedenen Absätze für die Farbkasten, keine Farblosigkeit als Strafe. Barbaren, schrie ein Teil von ihr, doch ein anderer bewunderte diese farblose Stadt und ihre Ideale - Gleichheit insbesondere. Doch das Fehlen ihrer Religion, irgendeiner Religion ... das war schrecklich. Diese Menschen glaubten, dass ihre Seelen mit ihren Körpern zu Staub zerfielen, wenn sie starben.

In all diesen Jahren hatte May Angst vor vielen Dingen gehabt – Höhe, Fehler, Strafen, Schande – aber nie vor dem Tod selbst. Sie fühlte sich als Teil eines großen Schwindels, seit Julian meterhohe Flammen gehorcht hatten wie artige Kinder. Diese Macht sollte einem Stern gehören, einem Gott. Sie sollte unantastbar sein, fern und bedrohlich, abstrakt. Doch sie hatte die Hitze gefühlt und das Silber in seinen Augen gesehen. Es gab keinen Zweifel daran, dass er die Wahrheit sagte. Ein Halbgott war mitten unter ihnen gewesen und das die gesamte Zeit, direkt vor der Nase des Ordens. Ein Halbgott.

May saß mit angezogenen Beinen auf ihrem Bett und starrte das in Samt gewickelte Päckchen an, das Coria ihr zugesteckt hatte. Die Knochenschwester hatte es ihr in die Hand gedrückt, als sie zu ihr und Cheleste in die Kutsche gestiegen war. Seitdem war May darum herumgetanzt. Sie hatte den dunklen Stoff nicht zurückschlagen müssen, um zu wissen, was die Knochenschwester ihr gegeben hatte.

Unter anderen Umständen hätte sie es Julian oder irgendjemand anderem gesagt. Sterne, vielleicht hätte sie sich sogar Orpheus anvertraut, weil es gar so ungeheuerlich war. Doch sie war ein Blatt, das im Wind driftete, alleine und verloren. Sie hätte es irgendjemandem geben sollen, das wusste sie. Doch die letzte Person in dieser Stadt, der sie ansatzweise vertraut hatte, hatte sich vor wenigen Stunden als Halbgott entpuppt.

Es war mitten in der Nacht, als sie das Bündel aus der Tasche zog. Alleine in ihrem Zimmer strich sie über den Samt, zögerlich und sehnsüchtig. Sie war auf der Suche nach etwas Vertrautem, etwas das sie kannte. Niemand konnte ihr einen Vorwurf machen. Ihre Finger zogen vorsichtig am Rand des Stoffstücks und sofort fiel es zur Seite, um das Wertvollste zu offenbaren, was May je besessen hatte.

Der Caz Kristall war beinahe so groß wie ihre Hand, elliptisch und trüb wie ein niemals fertiggestellter Spiegel. Worte waren in den heiligen Stein eingraviert, mühelos, ohne Serifen. May ließ ihre Finger über den Kristall gleiten und atmete zitternd ein, als sich die Macht der Hohen in ihr regte. Es war nicht wie in den zwei Türmen, wo ihr die Welt formbar und relativ erschien, weil sie alles um sich her manipulieren konnte, wo ihr alles zu Füßen lag. Doch es war ein Schatten dieser Macht, ein Vorgeschmack auf sie.

Mays ganzer Körper hatte zu kribbeln begonnen, als wäre sie zart von einem Geliebten berührt worden. Der blinde Spiegel war von einer Hohen geformt worden, das war unübersehbar, doch von welcher Hohen, konnte May nicht sagen. Hatte Dominique eine so feste Kontrolle über ihre Gabe, dass sie etwas so Feines schaffen konnte?

Der Gedanke an Julians Schwester, die May ebenfalls seit Kindertagen kannte, war beängstigend. Doch trotz der Möglichkeit, dass der Spiegel von ihr erschaffen worden war, konnte May sich nicht dazu bringen, die Hand zurück zu ziehen. Diese Gabe gehörte ihr genauso sehr, wie sie der jungen Königin gehörte. Sie hatte Angst davor gehabt, als sie mit Rya trainiert hatte, doch als sie Julian in den zwei Türmen gerettet hatte, als sie gegen Dominique gekämpft hatte, war etwas in ihr aufgebrochen. Sie hatte aufgehört vor sich selbst davon zu laufen. Wieso sollte sie eine uralte Macht fürchten, wenn sie ihr so bedingungslos zu Füßen lag?

May ließ den Spiegel vor sich in der Luft schweben, betrachtete ihre verzerrten Züge, die sich in dem Kristall vielfach brachen und dachte nach. Sie sah aus dem Fenster, hinaus auf die Wasserfälle und Minarette der verborgenen Stadt, die ihr nun ein wenig weniger bedrohlich vorkam. Nun, da sie etwas hatte, an das sie sich klammern konnte. Etwas, das nur ihr gehorchte.
Hades hatte sie wegen des Steins in ihrer Brust gefürchtet – nun hatte sie einen viel größeren Caz Kristall, eine viel gefährlichere Waffe. Endlich konnte sie sich verteidigen. Es war ein gutes Gefühl, nicht mehr wehrlos zu sein.

May sah nicht, wie Bewegung in die glatte Oberfläche des Spiegels kam. Lautlos und langsam, als würde sie aus Milch auftauchen, erschien ein Gesicht auf dem Stein. Es löste sich aus der glatten Fläche, wie ein detailliertes Relief. Als die Silencia Erbin zurück zu ihrem Spiegel sah, fuhr sie zusammen.
May kam auf die Beine, brachte mehrere Meter Abstand zwischen sich und den Caz Kristall, bevor sie ihren nächsten Atemzug tat.

Die Frau, gegen die sie in den zwei Türmen gekämpft hatte, starrte sie aus dem Spiegel an. Scharf geschnitten wie Julians Gesicht und dasselbe, spöttische Lächeln auf den Lippen, das auch er so oft zur Schau getragen hatte. Panik nahm May in Besitz, obwohl sie so weit weg wie nur irgendmöglich war von den kalten intelligenten Augen der frisch gekrönten Herrscherin.

„Du", flüsterte May, während Dominiques steinerne Lippen sich zu einem feinen Lächeln verzogen. Für einen Moment war sie wie festgefroren. Die Frau, die ihren eigenen Vater und ihren Ehemnann umgebracht hatte, die beinahe Julian versklavt hätte und Mays Mutter zu einer Schachfigur in ihrem Putsch gemacht hatte, hatte die Unverfrorenheit zu lächeln, als sie May ins Gesicht sah.

„Hallo, Schwester", grüßte die Königin der letzten Stadt, doch May hob die Hand und das steinerne Gesicht erstarrte mitten im Satz. Mays Herz hämmerte in ihrer Brust, als sie Dominiques Abbild anstarrte, das nun bewegungslos mitten in ihrem Zimmer schwebte. Es wäre unfreiwillig komisch gewesen, wie sie das Gesicht verzogen hatte, wenn es sich nicht um die mächtigste Frau der Erde handeln würde.

Mays Gedanken rasten. Dominique hatte ihr ein Medium zukommen lassen, um mit ihr zu kommunizieren – und das mitten in der farblosen Stadt. Was versprach sich die Königin davon? Wie hatte sie in so kurzer Zeit so viele Informationen über die Stadt der Valeria sammeln können?

May sah die Königin noch einen Moment stumm an, dann hob sie den Samt auf, der auf ihrem Bett gelegen hatte, und warf ihn mit spitzen Fingern über den Spiegel.
Julian hat ja keine Ahnung, wie nahe sie wirklich ist, dachte May bitter, während sie den Spiegel mit eiskalten Fingern in ihrem Schrank versteckte. Doch entweder entglitt ihr für einen Moment die Konzentration, oder Dominiques Macht strahlte eine Sekunde heller als ihre, denn bevor May die Tür schließen konnte, flüsterte der Spiegel:

„Ich weiß, was du bist, May Silencia. Ich bin die Einzige, die je verstehen wird, was du bist."













[Wer hat vergessen, letzte Woche upzudaten und es erst viel zu spät bemerkt? Dreimal dürft ihr raten (und mir verzeihen, weil ihr mich lieb habt auch).]



(Finden wir die Punkte ästhetisch oder nervig?)

Smokehands (Skythief pt. 2)Where stories live. Discover now