65 - Macht

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„Bleibt zurück!"

Julians Stimme wusch über den Platz wie ein Sturm, so laut, dass nicht nur die Menge, sondern auch Coria innehielt, lange genug, dass der Mann, auf den sie es abgesehen hatte, davonkommen konnte.
Die Menschen erstarrten, als würden allein diese Worte sie an Ort und Stelle festfrieren.
May sah, wie sich der Blaue aus der ersten Reihe löste, eine dunkle Kapuze über den verräterischen Augen. Diejenigen, die ihm am nächsten standen fuhren zusammen. Die Menschen wandten den Kopf, um den Sprecher zu identifizieren und Julian ließ seinen Umhang fallen.
Schreie gellten über den Platz.

Ohne Maske oder Kapuze stand er mitten unter ihnen. Die Farblosen fielen übereinander, als sie versuchten, sich von ihm zu entfernen, noch panischer, als sie auf Coria reagiert hatten. May sah fassungslos zu, wie er zwischen der Menge und der Knochenschwester Stellung bezog. Ein einzelner Mann, scheinbar unbewaffnet.

„Bleibt zurück", forderte er erneut, „Hinter mich."

Der Kronprinz, auf den wohl das höchste Kopfgeld in der Geschichte der letzten Stadt ausgestellt war, grüßte die persönliche Bluthündin der Hohen mit stummer Verachtung, als wisse er nicht genau, dass die dritte Schwester gerade einen Pfeil auf seine ungeschützte Brust gerichtet hatte.
Einen Moment lang schien Coria zu verblüfft, um etwas zu sagen. Sie ließ sogar ihre Klinge sinken, während die Menschen zu rennen begannen, um vor Julian zu fliehen – nicht vor ihr.

„Der tote Prinz", fauchte die Knochenschwester, doch es war unüberhörbar, dass sie geschockt war. Sie starrte Julian an, während May auf die Beine kam, um zu fliehen.

„Du wirst dir noch wünschen, du wärst sofort gestorben."

„Ich fürchte, dass sterben heute nicht auf meiner Agenda steht."

May machte zwei vorsichtige Schritte rückwärts, stieg über den Körper des Stallburschen und drehte sich gerade um, um zu rennen ...
Coria sah über die Schulter, ihre Augen zwei helle Punkte im Halbdunkel. May rannte, doch als die Knochenschwester sie an den Haaren packte und ihr eine Klinge an den dünnen Hals drückte, gab es nicht viel, das die Hohe tun konnte. Als Coria Mays Gesicht dem Kronprinzen zuwandte, war dessen Miene vollkommen versteinert.

„Du kannst nicht alle deine neuen Freunde beschützen", höhnte die Ordensdame, die erstaunlich gelassen mit dem Fakt umging, dass Julian immer noch lebendig war.
Coria hielt May mit einem Arm fest und gab mit dem anderen ein Signal, das nur an ihre Schwester gerichtet sein konnte. Mays Atem stockte ihr in der Kehle. Julian hatte keine Möglichkeit auszuweichen, keinerlei Schutz.

Sie begriff, was er tat, während die Hand der Knochenschwester immer noch in der Luft schwebte: Er setzte all seine Karten darauf, dass seine Schwester ihn lebendig haben wollte. Naiv, dachte May, er kann nicht so naiv sein.

„Weg da", schrie sie, doch er bewegte sich keinen Zentimeter.

„Lass sie los", seine Stimme blieb fest, unbeteiligt, was jahrelanger Übung zu verdanken war. Selbst unbewaffnet und alleine strahlte er diese natürliche Autorität aus, für die May gemordet hätte.
Wie konnte er so ruhig sein?

„Leg' die Waffen nieder und wir finden eine Lösung ohne Blut zu vergießen."

Die Klinge biss May in den Hals. Ihre Panik ließ sie Sternchen sehen, während sich der Blaue und die Silberne feindselig taxierten.

„Es gibt einen besonderen Platz im Dunkel zwischen den Sternen für Farbverräter."

„Ein letztes Mal, Coria, der alten Zeiten wegen: Leg' die Waffen nieder. Ich schwöre, ich schone dich."

„Schonen? Du willst mich schonen? Du hast nicht einmal eine Waffe zur Hand, Prinz", höhnte sie, „Du weißt genauso gut wie ich, dass du mich nicht besiegen kannst. Ich habe dich schon geschlagen, als wir beide noch Kinder waren."

May hasste, dass sie der Frau, die ihr Leben bedrohte, zustimmen musste. Julian hatte keine Chance gegen Coria. Sein Blick schwenkte von der Knochenschwester zu May, entschuldigend, als wolle er sagen ‚Ich habe es versucht'.

„Du bist eine Schande, Julian d'Alessandrini-Casanera", fauchte die Ordensdame und grub die Klinge tiefer in Mays Hals, „Du und dieses Stück Dreck. Ich hoffe, es tut dir so sehr weh, sie sterben zu sehen, wie ..."

Flammen schossen aus dem soliden Stein des Platzes. In einem Moment war da nur Stein, im nächsten loderte die Luft selbst orangerot. May dachte einen Moment lang, es wäre der Sauerstoffmangel, der sie halluzinieren ließ. Doch dann begann die Klinge an ihrem Hals zu zittern. Der Atem der Knochenschwester wurde abgehackt, als würde das geisterhafte Feuer ihr den Atem rauben.

„Siehst du das auch?", fragte sie May und beinahe war es wieder ihre normale Stimme. Die Stimme, mit der sie ihr im Gemeinschaftsraum Kaffee angeboten hatte.

May war zu geschockt, um zu rennen, doch es spielte keine Rolle.
Warmes Licht wusch über sie hinweg, erhellte den gesamten Platz, als würde so tief unter der Erde eine Sonne scheinen.
Feuer. Echtes, rauschendes Feuer. Woher kam es?
Mays Gehirn suchte nach einer Erklärung, nach dem Brennstoff, dem Zündfunken und fand nichts.
Gab es hier überhaupt genug Sauerstoff für eine solche Reaktion? Wie?

Coria starrte May an und sah ihren eigenen Schock auf dem Gesicht der anderen Frau gespiegelt. Beide konnten nur starren, während Julian auf sie zu kam. Die Knochenschwester wich zurück. Sie murmelte eines der bekanntesten Gebete an die Sterne, während sich die dunkle Shilouette eines Mannes aus dem Inferno löste. May stimmte mit ein, bewegte die Lippen stumm, wie festgefroren trotz der plötzlichen Hitze.

Deswegen hatte die Menge ihn gefürchtet. Das Feuer war der Grund, wieso er so respektlos mit der goldenen Frau reden konnte. Alles ergab Sinn- und gleichzeitig überhaupt keinen mehr.

May bekam keine Luft mehr.
Die Flammen hatten sich zu einer unnatürlich hohen Mauer aufgeschwungen, die die Farblosen von den Ordensdamen trennte.
Als die Knochenschwester fliehen wollte, schnitten ihr die Flammen den Weg ab.

Julian war immer noch geisterhaft ruhig, als er auf sie zu kam.
Und Coria – die angsteinflößendste Mörderin, die May je gekannt hatte, deren Name in der ganzen Stadt gefürchtet war – sank auf die Knie.
Sie hob die gefalteten Hände, als wäre Julian eine Götzenstatue, als wäre er ein leibhaftiger Gott.
Als er May ansah, wäre sie beinahe in Ohnmacht gefallen. Denn die Augen des Kronprinzen waren nicht mehr meerblau, wie die seiner Ahnen. Julians Augen strahlten im reinsten Silber, das May je gesehen hatte.

Sein Blick war hell wie ihr eigener, heller sogar, sein Gesichtsausdruck beinahe traurig, als er der Knochenschwester ein paar eiserne Handschellen vor die Füße warf, perfekt kontrolliert, obwohl May genau sehen konnte, wie seine Schultern zitterten. Als sie keine Anstalten machte, sich die Eisen anzulegen, tat er es selbst. Coria zuckte vor ihm zurück, als wäre seine Haut sengend heiß.

„Ich weiß", sagte er düster, während die Flammen in sich zusammenfielen, „Ich stecke voller Überraschungen."

Smokehands (Skythief pt. 2)Where stories live. Discover now