49 - Zersplittern

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Allem Anschein nach hat ein verlorenes Kind seinen Weg zu uns gefunden, echote es in Cress Kopf.
Ein verlorenes Kind.
Eine Abnormität.
Eine Kreuzung aus Mensch und etwas anderem, etwas, das sie nicht verstand.
Zwischen den vergilbten Seiten der Bücher, die sie in der Bibliothek aufgeschlagen hatte, hatte sie von ihnen gelesen. Von Halbsternen, Wesen, die wie Menschen aussahen und doch keine waren. Sie hatte die Geschichten als Märchen abgetan, mit denen man Kindern Angst einjagte, um sie dazu zu bewegen, artig zu sein.

Denn es waren keine schönen Märchen. Ganz im Gegenteil.
Die Halbsterne waren tückisch, grausam und gnadenlos, was sie hinter schönen Gesichtern und scheinbar menschlichem Verhalten verbargen. Sie waren Wölfe im Schafspelz, die sich unbehelligt einschleichen konnten, um dann ganze Ortschaften auszulöschen. Achill hatte kein Wort über die perfide Gerissenheit verloren, die diese Mischwesen an den Tag legten. Zumindest, laut den in düsteren Farben illustrierten Büchern, die Cress auf der Fensterbank neben dem Konzertflügel der Bibliothek gelesen hatte.

Doch sie hatte nach Geschichten gesucht, nach Legenden und Sagen, während alle Antworten, nach denen sie sich nächtelang gesehnt hatte, weil sie verzweifelt versuchte, zu verstehen, was in der Arena geschehen war, in Geschichtsbüchern gefunden hätte. Geschichtsbüchern, die wahrscheinlich jedes Schulkind in dieser Stadt in und auswendig kannte.

Cress wandte den Kopf ab, wischte sich das Duschwasser aus den Augen, spuckte es aus. Staub, Schmutz und Erde sammelten sich auf den nassen Fliesen um ihre Füße, von denen immer noch kristallklare Perlen aus Wasser auf den Boden liefen.

Das Schlimmste war, dass sie immer wieder mit offenen Augen direkt an all den Erklärungen vorbeigerannt war. Jeder Mensch in der Stadt hätte sich die Bücher aus der öffentlichen Bibliothek ausleihen können. Wahrscheinlich hatten sie alle schon eine ungefähre Vorstellung davon gehabt, dass diese Gaben existierten. Das mussten sie ja, wenn bis heute vereinzelt verblasste Esterelfähigkeiten die Stammbäume der Menschen hier brandmarkten.

Cress stoppte das Wasser, rieb sich abwesend Seife auf die Haut und in die inzwischen viel zu langen Haare. Sie legte den Kopf in den Nacken, drehte das Wasser wieder auf, spürte entfernt, wie es durch ihre Haarsträhnen fuhr. Sie beeilte sich, denn Achill war ihnen noch viele Erklärungen schuldig, auch wenn sich ihr Kopf bereits anfühlte, als würde er bald explodieren.

Cress hatte nicht mehr gesprochen, seit sie den Rückweg durch die Mienen angetreten hatten.
Sie war auf Abstand geblieben, hatte ihr hämmerndes Herz und ihren panischen Kopf gezwungen, die schreckliche Enge zu ertragen.
Sie hatte sich jeden Atemzug erkämpft, hatte ihre Angst niedergerungen, nur um sich nicht wieder die Augen von Julian verbinden zu lassen.
Julian, dem sie gerade eben noch so nah gewesen war, dem sie vertraut hatte, ohne es selbst zu bemerken. Der junge Mann, den sie über den weißen Tasten eines fremden Klaviers geküsst hatte, um ihn zumindest für ein paar Momente aus seinem Leid herauszureißen. Sie ertrug den Gedanken nicht, dass er nicht der war, für den sie ihn gehalten hatte.

Wassertropfen liefen an der Glasscheibe hinunter, als sie aus der Dusche stieg und sich abtrocknete. Cress musste feststellen, dass sie in all der Aufregung wohl den Pullover, den man ihr hingelegt hatte, in dem angrenzenden Zimmer vergessen hatte. Derb fluchend schlüpfte sie nur in die helle Hose und schloss den BH, den sie seit einer halben Woche trug. Sie öffnete die Badezimmertür und trat in einer Wolke aus Wasserdampf zurück in das Zimmer.
Nur, dass dieses nicht mehr leer war, wie zuvor.

Julian saß mit geschlossenen Augen auf dem schiefergrauen Sofa, hatte den Kopf nach hinten an die Wand gelehnt und die Augen geschlossen. Als er sie hörte, wandte er sich ihr zu, blinzelte, hob die Augenbrauen und senkte letztendlich den Blick.
Cress versteifte sich für einen Moment, bevor sie kommentarlos den Raum durchquerte. Sie griff nach dem grauen Bündel auf der Sofalehne.

Smokehands (Skythief pt. 2)Where stories live. Discover now