33 - Dein Volk

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„Du kannst reiten?", war das erste, was die Schreibfeder Cress fragte.
Sie schmunzelte.
Sie hatte noch nicht einmal schwimmen gekonnt, als ihr Bruder ihr das Reiten beigebracht hatte.

Achills Pferde waren schlank und schnell, aber bei weitem nicht so stark und schön, wie der Hengst, auf dem sie vor Ana geflohen war.
Cress schwang sich in den Sattel.
Ein Soldat reichte ihr die Zügel.
Sie traf den Blick des Valeria.
Der Mann hatte sich ihren Respekt noch nicht verdient und das wusste er genauso gut wie sie. Kühle Missachtung brachte sie ihm entgegen. Nur Walshs Bitte hielt sie neben dem Valeria.
Wenn sie ritten, konnten sie immerhin nicht reden.
Achill gab seinem Pferd die Sporen. Zu zweit sprengten sie den Tunnel hinunter.
Die Soldaten mit dem Höllenhundemblem folgten auf dem Fuße.
Die kühle Luft wehte Cress die Haare aus dem Gesicht.
Es war befreiend, in Bewegung zu sein.

Cress war absolut orientierungslos in den Tunneln, durch die sie ritten.
Sie hatte die Biegungen mitgezählt, aber dieses Labyrinth blieb undurchschaubar. Achill Valeria brauchte nicht einmal eine Karte.
Die Tunnel wurden mit jeder Kurve, die sie nahmen, weniger fein ausgearbeitet.
Grober Stein raste knapp über ihrem Kopf dahin.

„Ab hier müssen wir zu Fuß gehen", kündigte die Schreibfeder an, zügelte ihr Pferd und stieg ab.
Schotter knirschte unter seinen Stiefeln, als er die Zügel an einen seiner Soldaten übergab. Cress folgte Achills Beispiel. Als die beiden Soldaten ihnen folgen wollten, winkte er ab.
Cress hob die Augenbrauen.
„Das sollte ich als Beleidigung auffassen", bemerkte sie.

„Fasst es als Friedensangebot auf", antwortete er nüchtern und ließ ihr den Vortritt. Wahrscheinlich, weil er Angst hatte, sie würde ihn als Antwort auf sein Friedensangebot von hinten erstechen.

„Ich bin gespannt, Achill Valeria", sie duckte sich an einem Stalagtiten vorbei, „was habt ihr mit uns vor? Werdet ihr ihn in dieser Kirche einsperren und hoffen, dass die Wände dick genug sind? Werdet ihr ihn an Dominique ausliefern, um die Königin davon abzuhalten, eure Stadt zu zerstören? So viele Möglichkeiten", fühlte sie ihm auf den Zahn, „Ich weiß, was ich tun würde."

„Und was wäre das?"

Ein Windstoß, der aus dem Nichts kam und ins Nichts ging, rauschte durch Cress Haare. Vor ihnen wurde der Weg noch schmaler.
Sie wandte sich zu ihm um und sah an dem jungen Mann hinauf.

„Ich würde anfangen zu beten, Fürst", empfahl sie, bevor sie sich abwandte und den Gang hinunter ging.

„Ihr glaubt nicht an die Sterne. Zu wem würdet Ihr beten?", fragte er, völlig unbeeindruckt in der Halbfinsternis.

„Woher wollt ihr das wissen?"

„Alle religiösen Menschen in dieser Stadt drängen sich gerade in den Klostern und Tempeln. Sie flehen um Beistand, sie flehen um Gnade oder darum, dass der grausame Messias sie zurück ins Licht führt. Dass er gekommen ist, um diese Stadt zu retten und nicht, um sie bis auf die Grundfesten niederzubrennen."

Erneut duckte sie sich an einem Tropfstein vorbei. Stützte sich auf kühlem, feuchtem Stein ab, zog den Kopf ein.
Er müsste sie nicht einmal erstechen, um sie loszuwerden. Er müsste sie hier einfach alleine lassen. Doch das würde Achill nicht tun. Nicht, weil ihn sein moralischer Kompass davon abhielt, sondern weil sie das einzige gewesen war, das sein Volk in diesem Amphitheater gerettet hatte.

„Ihr seid nicht religiös", sagte Achill, „In Eurer Stadt macht euch das zu einer Rebellin. Hier macht es euch zu nichts. Glaube ... ist eine freie Entscheidung. Viele von uns entscheiden sich dagegen, mich eingeschlossen.
Farblos zu sein bedeutet für diese Stadt, eine Wahl zu haben."

Fassungslos blieb Sie stehen, wandte sich zu ihm um, eine Hand um einen Tropfstein gelegt. Das Dämmerlicht gab der Szene etwas Verschwörerisches.

„Wisst Ihr, was es bedeutet, dort", sie zeigte nach oben, „farblos zu sein?"

Sie wartete, erhielt keine Reaktion.

„Wir sind alle Rebellen. Aber nicht, weil wir die Entscheidung getroffen haben, zu solchen zu werden, sondern weil die meisten von uns für die Sünden ihrer Eltern oder deren Eltern bestraft werden. Es gibt Familien, die seit einem halben Jahrhundert zu einem Leben in den Schatten verdammt sind. Wir haben nichts. Kein buntes Glas, keine Juwelenringe, keine Königsumhänge", er versteifte sich, als sie nach einer Ecke seines Umhangs griff und grob an dem teuren Stoff zog, „stellt uns nicht auf eine Stufe, Valeria. Ich wette, Ihr habt nicht eine Minute Eures Lebens Not gelitten. Ihr mögt keine Farbe haben, aber uns verbindet nichts. Gar nichts. Wagt es nicht, mir zu sagen, dass wir ein und dasselbe sind", zischte sie, „Nur, weil Ihr genauso wenig an die Lügen der Priester glaubt wie ich."

Sie wandte sich nicht ab, forderte ihn dazu heraus, sie anzusehen, sie wahrzunehmen, bevor sie weiter dem schmalen Pfad folgte.

„Habt ihr mich hier heruntergebracht, um mich umzubringen wie ein Feigling, Valeria?", fragte sie über die Schulter.

Der Tunnel mündete in eine weitere Höhle, nur wenige Meter von dem Ort entfernt, an dem sie stand. Er hätte genauso gut ins Nichts führen können.

„Nein", entgegnete Achill, „jemand hat nach euch verlangt. Es ist übrigens verboten, was wir hier gerade tun. Ich riskiere meinen Hals hierfür, Schattenvogel, und ich erwarte keine Dankbarkeit, aber wenn du nicht in jedem zweiten Satz erwähnen könntest, wie sehr du mich hasst, wäre das sehr angenehm."

Er überholte sie und steuerte geradewegs in die Dunkelheit hinein. Einen Moment zögerte sie.
Dann folgte sie ihm.

Es dauerte einige Sekunden, bis sich ihre Augen unter heftigem Blinzeln an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Cress hob den Kopf, suchte nach der Decke der gigantischen Höhle und fand sie so hoch über sich, dass ihr schwindlig wurde.
Sie konnte nicht abschätzen, ob die Höhle größer war, als die, in der sie die Stadt errichtet hatten. Ganze Königreiche hätte man in den verborgenen Höhlen unter der letzten Stadt unterbringen können. Königreiche, von denen niemand erfahren hätte.
Er wartete auf sie, dort, wo die Kante des Steinplateaus mit der Dunkelheit verschmolz.
Was wollte er ihr zeigen?
Langsam trat Cress zu dem Valeria und ließ ihren Blick schweifen.
Von flackernden Flammen erhellte Strickleitern führten hinunter.

Lichter in der Dunkelheit.
So viele Lichter, dass sie wie falsche Sterne die ganze Höhle erfüllten. Winzig von dieser Höhe aus. Fackeln und Lampen, Scheinwerfer durchbrachen die ewige Nacht. Lagerfeuer und Zeltplanen warfen Schatten gegen den kalten Felsboden. Hunderte.
Tausende. Zehntausende.
Menschen kauerten um die Feuer, ihre Gespräche nur als Wispern hörbar.
Wispern, das Cress einen Schauer über den Rücken jagte. So viele Menschen.
Wie hatte man sie all die Jahre geheim halten können? War das hier das Armenviertel? Hatte er sie hergebracht, um ihr das Leid seines eigenen Volkes zu zeigen?

„Was ist das?", fragte sie leise, „Wieso zeigt Ihr mir das?"

„Ihr erinnert Euch nicht?"

Als sie den Kopf wandte, sah der Valeria nur auf das Zeltmeer hinunter. Etwas zupfte an ihren Erinnerungen, etwas, das sie beinahe greifen konnte und das doch im Dunkeln lag.

„Als in der Nebelnacht das Giftgas über dem farblosen Bezirk zusammenschlug, waren die Straßen leer, Cress Cye", erklärte Achill Valeria leise, „du warst alleine dort."

Der seltsame Wind, der durch die tiefen Höhlen pfiff, jagte Cress Gänsehaut über den Rücken, während sie sich erinnerte.
Leere Straßen.
Dröhnende Stille, bis auf das Geräusch ihres eigenen, panischen Herzens. Auch jetzt hörte sie es bis in ihre eigenen Ohren schlagen, aber nicht vor Panik. Ihre Augen huschten durch das Halbdunkel, der Rest von ihr völlig eingefroren, als sie begriff, was Hades Familie getan hatte.

So viele Zelte. So viele Menschen. So viele farblose Menschen.
Nicht farblos, weil es in ihrer Stadt nie ein Farbsystem gegeben hatte, sondern farblos, weil sie aus diesem System ausgestoßen worden waren.

Cress stand völlig überwältigt auf der Klippe und starrte auf die Farblosen hinunter, die sich in dem Flüchtlingslager drängten.
Sie lebten. Die Farblosen der oberen Stadt hatten den Anschlag überlebt.
Dominiques Plan war gescheitert, nicht an Julians Weitsicht, nicht an Mays Macht oder Cress Fertigkeiten, sondern an der Gnade der Valeria.

„Du magst mich nicht zu deinem Volk zählen, Cress Cye", flüsterte Achill, „Aber ich habe dein Volk gerettet."

Smokehands (Skythief pt. 2)Where stories live. Discover now