51 - Der große Krieg

1K 128 6
                                    

Ein Schlachtfeld war um sie her aus dem Teppich und dem dunklen Holz des Tischs gewachsen.
Der Himmel einer alten Zeit hatte sich über sie gespannt, gesprenkelt mit einem unregelmäßigen Muster aus silbrigen Sternen.
Julian sah, wie Cress voller Sehnsucht den Kopf zu dem künstlichen Himmel hob, der sich über die Decke der Bibliothek gespannt hatte. Wie lange waren sie nun schon von dem Firmament getrennt, unter dem sie geboren worden waren?
Wie lange hatte er keinen Wind mehr auf der Haut gespürt?
Weit über einen Monat.

„Das hier ist die jüngste Aufnahme, die wir von jenseits der Mauer haben", Achills Stimme waberte um sie her, wie der Rauch eines beinahe erloschenen Feuers.
Sand tanzte über die junge Wüste, ohne dass Julian dessen Stechen auf seinen Wangen fühlte. Die Projektion flackerte für einen Moment. Sie war nicht so perfekt, wie die, in denen er sich normalerweise bewegte.
Es verunsicherte ihn.

„Sie ist die letzte Übertragung, die uns von unseren Truppen erreicht hat."

Julians Blick ruhte auf den Metallkolossen, die wie riesige, soeben erlegte Tiere um sie her im Sand lagen. Sie waren fremdartig und wirkten futuristisch auf den Prinz der letzten Stadt, als hätte man eine Vision in Metall gegossen. Selbst als Wracks ließen die Sternenschiffe, die die Menschen einst erbauen konnten, erahnen, wie elegant sie einst am Himmel gestanden hatten. Feuer leckte an den geborstenen Metallhüllen.
Einzelteile waren über mehrere kratergezierte Dünen verstreut worden. Menschen waren nicht mehr als dunkelroten Schlieren auf dem langsam abkühlenden Sand geworden. Julian hatte schon Schlachtfelder gesehen, auf Fotografien, in Filmen und Projektionen.

Doch in all seinen Geschichtsstunden war ihm nichts dergleichen begegnet. Bis zum Horizont waren die weißen Dünen durchsetzt mit rauchenden Wracks. Die Wüste war zum Friedhof einer Spezies geworden.
Seiner Spezies.
Er zuckte zusammen, als ein nahes Wrack in einen hellen Feuerball aufging, der meterhoch Sand gen Himmel schleuderte. Im Schein des Feuers schien das Gesicht des Königs der Unterwelt wie aus hellem Stahl geschmiedet. Julian fühlte seinen Blick auf sich, während er die Zerstörung um sich her zu begreifen versuchte.

„Der 29. April 2100", sprach Hades, während Julian sich auf dem Holz des Tisches abstützte, den er nun nicht mehr sehen konnte, um seinen Körper zu entlasten, „der Tag der toten Tauben. Das letzte Mal, dass jemand außerhalb der Mauer war, um die Zerstörung zu dokumentieren. Die Delegation kam nie zurück."

Die Projektion flackerte so grell auf, dass Julian geblendet die Augen schloss. Hatte sein Vater diese Aufnahme gesehen?
Hatte man sie als eine Abgetan, die der Krieg zwischen den verschiedenen Ländern der Erde hervorgebracht hatte?

Für einen Moment tauchte die Bibliothek wieder um sie her auf, während Achill eine Einstellung an dem ungewohnt großen Raumprojektor änderte.
Cress war leichenblass geworden.
Sie hatte wahrscheinlich noch nie Kriegsaufnahmen gesehen, woher auch?

„Die Bekannteste Aufnahme der Geschehnisse stammt aus St. Petersburg."

Wieder senkte sich Dunkelheit über sie. Ein neuer Himmel tauchte weit über ihnen auf. Julian, Cress, Hades und Achill standen wieder unter einem nachtblauen Himmel auf einem riesigen Platz. Um sie her waren Menschen im Aufruhr. Alle Fenster standen offen, Menschen reckten die Hälser, um irgendetwas in der Ferne betrachten zu können. Kinder streckten die Arme gen Himmel, alte Frauen schüttelten ungläubig den Kopf.

In der Ferne, gut sichtbar zwischen zwei der verspielten Türme der Blutkirche von Sankt Petersburg schien die Hand eines Gottes ein Loch in den dunkelblauen Stoff des Nachthimmels gerissen zu haben. Silbernes Licht strömte daraus hervor, wie Ichor. Licht, das sich in einzelne Funken aufteilte, die hell wie Sterne in alle Himmelsrichtungen ausschwärmten.

Ein alter Mann, der Teil der Projektion war, war neben Julian getreten. Er nahm seinen Hut ab, klammerte die knotigen Finger darum und hob die Hand an Stirn, Mund und Herz, während er ein Gebet in einer lange toten Sprache zu einem Gott murmelte, der nicht in den Elegien des hohen Ordens Erwähnung fand. Julians Kopf zuckte herum, als jemand begann, Violine zu spielen.

Das Mädchen war vielleicht vierzehn. Sie hatte sich von den Lichtpunkten abgewandt, den Rücken gegen eine Hauswand gelehnt und spielte leise einen Walzer. Eine bekannte Melodie, vielleicht die einzige, die sie kannte. Shostakovitch, Walzer Nummer zwei, erkannte Julian sofort. Sie spielte nicht perfekt, aber ein altes Ehepaar fasste sich beherzt bei den Händen und versank in einen Walzer, während immer mehr Sterne über den Himmel schossen und in der Ferne das Dröhnen einer Explosion widerhallte. Doch die Violinistin spielte unbeirrt weiter.

Es gab keinen Ausweg, realisierte Julian. Der Tod würde in wenigen Momenten vom Firmament hinuntersteigen, das wussten die Menschen hier. Sie versuchten nicht einmal zu fliehen. Er wollte sie anschreien, wollte sie schütteln und zum Fliehen bewegen, doch während manche mit eilig gepackten Koffern eine hoffnungslose Flucht begannen, fassten sich immer mehr Menschen bei den Händen und begannen unter dem zerbrechenden Himmel zu tanzen.

Weitere Musiker fielen mit ein, ein Flötenspieler, ein zweiter Violinist, ein Akkordeon. Die Bewohner von St. Petersburg drehten sich eng umschlungen im Kreis, während die tödlichen Sterne auf ihre Stadt zuschossen. Julians Kehle war so eng geworden, dass er fürchtete, nie wieder sprechen zu können. Es war, als würde man zusehen, wie die Titanik auf ihren Eisberg zuhielt, doch anstatt eines Schiffs war es die ganze Welt, die auf ihren Untergang zusteuerte. Kinder schrien, Automotoren wurden hektisch angelassen, Namen der Liebsten über den Platz gebrüllt, während die Instrumente der Welt ein Abschiedslied spielten und die Menschen sich vor und zurück wiegten. Sie sahen nicht auf, als das Wesen zu ihnen herunterschwebte.

Hades hatte jedoch den hasserfüllten Blick zu dem kleinen silbernen Pfeil gehoben, der schnell näher kam.

„Das ist sie", sagte er nur.

Julians Kehle war zu trocken, um nachzuhaken. Silbern und fragil kam vor der Weite des zerrissenen Himmels die Shilouette einer Frau in Sicht mit langen, wehenden Haaren in Sicht. Sie schwebte durch die dünne Luft herunter, wie ein menschlicher Körper durch Wasser sinken würde. Julian fühlte sich unangenehm an May erinnert, die weißglühend durch die Macht der Caz Kristalle zu seiner Rettung kam.
Doch May war menschlich.
Das Wesen, das dort vom Firmament herabstieg, könnte trotz der menschlichen Form nicht weniger mit den Tanzenden gemein haben. Sie landete zwischen den Menschen auf dem Platz, die ihr eilig Platz machten. In fast kindlicher Naivität sah sie sich einen Moment lange um.
Die Projektion flackerte erneut.

„Das ist eure Laureline", sagte Hades düster, während die Esterelfrau ihren hellen Blick über die wehrlosen Menschen vor sich schweifen ließ, „Das ist das Wesen, von dem die Hohe behauptet, es hätte sich der Menschheit erbarmt."

Da war kein Funken Mitgefühl auf dem Gesicht des Wesens, keine Bewegung in ihrer Mimik oder Gestik, die man als Warnung deuten könnte. Als die Pflastersteine unter der Wucht eines fremden weißen Lichts zerbarsten, die vielen Schreie zu einem einzigen verschmolzen und die Kuppel der Kirche zu nicht als Staub wurden, erst dann, verstummte die Musik. 

Smokehands (Skythief pt. 2)Where stories live. Discover now