57 - Zeitbombe

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„Was willst du wissen?", fragte Cress. Ihre Stimme war so düster, dass so ziemlich jeder andere inzwischen die Flucht ergriffen hätte. Doch nicht Marie, die nachdenklich ihre klimpernde Flut aus Zöpfen im Nacken zusammenfasste.

„Du lebst dort, nicht wahr? In der farblosen Stadt, von der sie alle reden. Du dienst dem König der Unterwelt."
Cress bildete sich ein, das Gift in ihren Adern rumoren zu spüren, als sie aufstand und begann, auf dem bloßen Felsboden auf und ab zu gehen. Ihr Herz schlug schneller als gewöhnlich, ob durch das Adrenalin des Kampfes, Cress Wut auf Marie, der zunehmenden Angst, heute hier zu sterben, oder die Wirkung des Tees, ausgelöst. Sie musste mitspielen. Marie war nicht so dumm, ihr zu sagen, wo sie das Gegenmittel versteckte.

„Wusstest du von den Farblosen hier unten, Cress Cye?", hakte die Heilerin nach, „Hast du die ganze Zeit für Hades gearbeitet?"
Die Verachtung in Maries Stimme war unverholen.

„Erstens", Cress stützte die Hände auf die Stuhllehne und bemühte sich, ruhig zu atmen, „Diene ich niemandem außer mir selbst, seit ich den Kreuzbuben verlassen habe. Zweitens, wirst du es bitter bereuen, wenn du mich das hier überleben lässt."

„Nicht besonders intelligent, mir in diesem Moment zu drohen", antwortete Marie nur.
Magda eilte herbei, stellte ihr eine Frage und verschwand mit einem bangen Blick auf Cress wieder irgendwo zwischen den Laken. Zitternd vor Wut hatte Cress die ganze Zeit die Augen nicht von Marie genommen.

„Diese Informationen sind verdammt gefährlich", zischte Cress, „Du wirst die wünschen, du hättest diese wahnwitzige Aktion gelassen, wenn ich dir auch nur einen Bruchteil der Wahrheit erzähle."

„Du hast mir nicht unbedingt die Wahl gelassen", sagte Marie und wandte sich dem Eingang zu, als die Plane raschelte. Einer ihrer Männer stützte einen alten Mann, dessen gesamter Körper sich unter schweren Hustenanfällen schüttelte.
Die Heilerin verschwand für einen Moment mit den Männern. Cress hörte sie Kommandos brüllen und blieb gezwungenermaßen brodelnd vor Zorn mitten im Lazarett stehen. Ihr Puls raste in ihren Adern und inzwischen war sie sich sicher, dass es nicht nur ihre Angst war, die dazu führte. Einmal mehr wünschte sie sich verstohlen in Julians Suite zurück, wo sie sich vor dem Kaminfeuer zusammenrollen und mit den Katzen kuscheln konnte, anstatt vergiftet zu werden.

„Komm mit", forderte Marie, als sie einige Momente später wieder auftauchte. Die Diebin folgte ihr zähneknirschend aus dem Zelt hinaus, die geballten Fäuste in den Jackentaschen. Marie nahm keine Lampe mit, um nicht aufzufallen in der Düsternis, sodass die beiden Frauen sich in der Dunkelheit beinahe nicht sehen konnten, als sie sich etwas abseits gegen die feuchte Felswand lehnten.
Cress zitterte.

„Für wen spionierst du? Für wen baust du ein Netzwerk auf?", fragte die begabteste Giftmischerin des farblosen Bezirks, „Versuch' nicht, mich anzulügen, so dumm bist du nicht."
Cress fragte sich erst später, ob Marie schon. Immer so gewissenlos gewesen war, oder ob der farblose Bezirk die Heilerin in ihr abgestumpft und die Giftmischerin geschaffen hatte.

„Ich arbeite nicht für Hades", spuckte die Diebin ihr angewidert entgegen, „Er hat mich gefangen genommen, verdammt."
So viel Wahrheit konnte sie zugeben, ohne das gesamte Weltbild der Heilerin hereinstürzen zu lassen.

„Wieso versuchst du dann, deine Verbindungen neu aufleben zu lassen?", fragte Marie, „Glaubst du wirklich, ich habe nicht mitbekommen, was du tust?"
Endlich fiel der Groschen.
Cress atmete langsam aus und ließ den Blick über die trüben Lichter der Stadt aus Stoff schweifen, bevor sie sich ihrem Gegenüber stellte.

„Du denkst, ich arbeite gegen dich", flüsterte sie, „Du denkst, dass ich versuche, die Wellen zu glätten, um deine Macht zu schmälern."
Marie war schon immer machthungrig gewesen. Wenn sie einen guten Tag hatte, verschleierte sie diese Bestrebungen durch Altruismus, aber im Geheimen war sie mehr Kriegerin als irgendetwas anderes. Cress wusste, wie es war, sich mit Zähnen und Klauen aus den Straßen zu kämpfen. Wie es war, sich immer wieder selbst an den Haaren aus dem Sumpf zu ziehen und wie man dabei langsam verlernte, auf andere Rücksicht zu geben.
Sie begann schwarze Punkte zu sehen, die in der Dunkelheit um sie her tanzten, als wäre sie kurz davor zu erblinden. Immer noch hämmerte ihr das Herz in den Ohren. Was bei den Sternen hatte Marie ihr gegeben?
Die Heilerin beugte sich vor und nahm die schwankende Cress bei der Schulter.

„Wieso hast du Kontakt zu den Clubs aufgenommen?"
„Das werden sie dir schon sagen, bei eurem nächsten kleinen Gipfeltreffen", die Worte stolperten von Cress Zunge, als wäre sie angetrunken.
Marie packte noch fester zu, drückte mit dem Daumen auf einen besonders großen blauen Fleck. Ihre Gesichter schwebten Zentimeter voneinander entfernt in der Dunkelheit, als Cress vor Schmerz ächzte.

„Ich arbeite nicht für Hades", wiederholte sie, „Er hätte beinahe jemanden umgebracht, den ich ...", sie stockte, „Wenn ich irgendetwas tue, dann um mich vor ihm zu schützen."

„Hör' mir gut zu", Maries Stimme war bedrohlich geworden. Sie war so nah, dass Cress ihren Schweiß riechen konnte. „Wenn du mir in den Rücken fällst, wenn du auch nur darüber nachdenkst, mich aufs Kreuz zu legen, werde ich dir wehtun. Verrat und Gift sind leise, aber beide hässlich. Wenn ich dich umbringen muss, um meine Sache zu retten, werde ich nicht zögern, egal, wie lange wir uns kennen."

Cress schwankte. Schnappte nach Luft. Die Heilerin packte ihr Kinn, starrte ihr einen Moment lang in die Augen, fing sie aber nicht auf, als Cress nach Atem ringend auf die Knie sank. Sie hatte bis zuletzt nicht gedacht, dass Marie sie wirklich umbringen würde. Panik rauschte durch ihre Adern, als sie auf dem kalten Stein zusammensank.

Das Gold einer Kirche tanzte in Schlieren durch ihr Blickfeld, während ihre Venen unter dem blauen Vogeltattoo zu zucken begannen. Der Atem stand weiß vor der Diebin in der Luft, während Maries Hand von ihrer Wange verschwand. Cress sah aus dem Augenwinkel, wie sie eine der weißen Blüten aus der Tasche zog, die rings um das Lazarett der Clubs wuchsen. Die Blüte schwebte einen Moment zwischen Maries Fingern vor ihr in der Luft.

„Sag' dem Herrn der Unterwelt, dass seine Zeit abläuft", forderte Marie und deutete in Richtung des Zeltlagers, das wie ein schlafendes Raubtier wirkte, „Er hat zu viele Versprechungen gemacht, um uns hier erfrieren zu lassen. Wenn er keine offene organisierte Rebellion will, sollte er sich schleunigst etwas überlegen. Ich bin bereit, zu verhandeln. Sag' ihm das. Sieh' dein Überleben als Beweis meiner guten Absichten."

Cress hörte, wie Maries Röcke rauschten, als sie sich umwandte und sah zu, wie die Blüte fiel. Sie hatte kaum noch genug Kraft, um die zarte Pflanze zwischen die Lippen zu schieben, bevor sie sich in der Kälte zusammenkauerte.
Hinter ihren geschlossenen Augen funkelten immer noch tanzende, goldene Schemen. Was für einen schrecklichen Fehler sie doch gemacht hatte, sich zu Erlauben ihre Wachsamkeit gegenüber Marie zu vernachlässigen. Vertrauen war im farblosen Bezirk teurer und tödlicher als jede Klinge.
Wie ironisch, dass die einzige Person, der Cress in diesem Malstrom aus Intrigen noch vertraute, königsblaue Augen hatte.

Smokehands (Skythief pt. 2)Where stories live. Discover now