3 - Heilige ohne Himmel

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May wurde unsanft auf den lederbezogenen Stuhl am einen Kopfende des Tischs gedrückt.
Sie machte sich nicht einmal die Mühe, sich umzusehen, denn sie hatte keine Chance, hier wieder lebendig heraus zu kommen.
Die Farblosen brachten ihr einen so leidenschaftlichen Hass entgegen, dass es körperlich spürbar war.
Wie ein eiskalter Wind, der ihr jedes Mal in die Haut schnitt, wenn sie einem ihrer Blicke begegnete. Ungefärbte Blicke.
Braun, Blau, Grün, hell, dunkel, getupft, vermischt, umrandet, kalt und warm.

Es kam ihr nicht so vor, als wäre sie von den stumpfen Verbrechern der Außenbezirke umgeben.
Nein, diese Menschen schienen ursprünglich wie die alten Vorväter. Die Menschen, die vor dem großen Krieg die Erde bevölkert hatten.
Die ersten Menschen.
Genetisch unverändert, unberechenbar und gefährlich.

Trotz allem war sie nicht verängstigt, wie sie es noch vor ein paar Wochen gewesen wäre.
Was sie erlebt hatte, was sie getan hatte, hallte dafür noch viel zu laut nach. Wie in Antwort leuchtete der Caz Kristall unter ihrem groben Leinenhemd auf.

Feuerschein tanzte über ihre Haut, die im Kerzenlicht wie polierter Marmor strahlte.
Oder wie Porzellan.
Sie war sich noch nicht sicher, aus was sie gemacht worden war.

Hades sprach, aber seine Worte zogen an ihr vorbei wie eine Wolke am Nachthimmel.
Irgendwann schien er zu bemerken, dass sie ihm nicht zuhörte und verstummte.

May starrte nur ihrer eigenen, undeutlichen Reflexion in der polierten Tischplatte in die Augen und erkannte sich kaum wider. Eingefallene Wangen, fettiges Haar, blasser denn je.
Ein Schatten von einem Menschen. Mehr ein Geist, als all die anderen Bewohner des Geisterbezirks mit ihren weißen Augen und den hellen Haaren.

Was war nur aus ihr geworden?
Was hatte sie getan, um das zu verdienen? Sie war gesegnet mit ihrer Gabe und doch schienen sich sämtliche Sterne von ihr abgewandt zu haben.

Es waren zwei Blutstropfen auf der Tischplatte gelandet. Sie fragte nicht, wieso.

Man sprach sie an.
Wieder und wieder.

Sie wagten es nicht, sie anzufassen, als wäre eine bloße Berührung toxisch. Dabei war sie nur ein einsames Mädchen in der Dunkelheit. Ein gefallener Stern.
Eine verstoßene Hohe.

Als letztendlich jemand nach ihrem Arm greifen wollte, hob sie den Kopf. Das reichte, um den Soldaten zurückzucken zu lassen. Sie musste ihn nicht einmal ansehen.

Sie ließ ihren Blick langsam zu den versammelten hinaufgleiten, kalt und hell wie ein Blizzard.

Sie hatten sie nicht geschlagen oder gefoltert, aber isoliert.
May war überrascht, auch jetzt noch keinen Folterknecht zu sehen. Vielleicht hatten sie auch alle zu viel Respekt vor dem heiligen Stein, der nach wie vor ihre Brust zusammenhielt.
Oder zumindest vor den Dingen, die sie damit tun konnte, sollte sie entscheiden, dass es ihr mehr wert wäre, jemanden von ihnen umzubringen, als selbst zu überleben.
Denn jede Sekunde könnte sie den Caz Kristall aus ihrer Brust herausholen und in hunderte von tödlichen Geschützen verwandeln. Immer vorausgesetzt, sie akzeptierte die Tatsache, dass sie dann elendig verbluten würde.

Sie wusste es.
Hades wusste es.
Jeder an diesem Tisch wusste es.

Man durfte sie nicht reizen.
Sie war nur Wimpernschläge davon entfernt, jeden in diesem Raum umzubringen.
Sich selbst eingeschlossen.

„Wusstet ihr von der Stadt ohne Sonne?"

Sie schwieg.

„Wusstet ihr von dem Plan der Prinzessin?"

Keine Antwort.

„Wie habt ihr Achlys eingeschlossen?"

Keine Antwort.

„Kennt ihr die Formel?"

Sie leuchtete immer wieder hinter ihren geschlossenen Augen auf. Bienenwaben aus tödlicher Chemie.

„Habt ihr ein Gegengift gefunden?"

Ihre Lippen zuckten nicht einmal.
Ihr Blick wanderte zu ihren abgebrochenen Fingernägeln hinunter.

„Wollt ihr euch nicht verteidigen?"

Die schnellste Bewegung, die sie seit Tagen getan hatte, schon traf sie Hades Blick wieder.

Sekunden verstrichen, in denen die Flammen flackerten und ihr Haar in Geisterfeuer verwandelten.

„Ich rechtfertige mich nur vor meinen Göttern."

Ihre Stimme war heiser und trocken geworden in den Wochen, in denen sie mit niemandem gesprochen hatte.

Eine Welle lief durch die Emotionen der Versammelten.
Die alte grausame Frau zu Hades linker hob die Augenbrauen, die Mundwinkel der meisten Berater sackten nach unten, während der Blick des Herren der Unterwelt undeutbar blieb. Sie dachte gar nicht daran, den Blick abzuwenden.

„Eure Götter sind nicht hier, Hohe. Sie werden Euch weder beschützen, noch richten. Ihr tätet gut daran, zu kooperieren."

Sie schwieg.

„Eure Mutter war involviert in den Putsch. Ihr habt jemanden umgebracht. Und die Einzigen, die hier unten darüber entscheiden, was mit Euch geschieht, sind wir. Also seht nicht auf uns herab, weil wir Menschen sind wie Ihr. Nutzt diesen Fakt zu Eurem Vorteil", er ließ sich Zeit damit, den Satz zu Ende zu bringen, „oder seid Euch der Konsequenzen bewusst."

„Wenn Ihr mich umbringen könntet, hättet Ihr es schon getan", erwiderte sie kühl.

Hades und der junge, blonde Mann im blutroten Umhang zu seiner linken wechselten einen vielsagenden Blick. Trotz der grundverschiedenen Haarfarbe war dank den geraden Gesichtszügen offensichtlich, dass der Blonde sein Sohn war.
Der Sohn beugte sich vor.

„May Silencia. Ihr befindet Euch nicht mehr in einer Diktatur. Wir sind keine Erbmonarchie. Wir wurden gewählt und werden euch entsprechend unserer Gesetze behandeln, wie wir es mit jedem anderen Menschen auch machen würden."

Sie starrte ihn an. Künstliches Weiß in wildem Blau.

Einen Moment lang hielt sie es für einen Witz. Dann lehnte sich May zurück und begann am ganzen Körper bebend zu lachen.
Ein seltsames, bitteres Geräusch, das zwischen der polierten Tischplatte, den hohen Marmorsäulen und dem Glasdach über ihnen hin und her zu prallen schien, wie ein Ball.

Ihre Ketten klirrten wie teures Silberbesteck.
Das Schweigen, dass auf ihren Ausbruch folgte, war erdrückend.
Hades schien erschüttert, sein Sohn weniger überrascht.

May hielt sich ihre schmerzenden Rippen, Tränen lachend.

„Ihr meint das doch nicht etwa ernst? Demokratie?"

Sie hätte gerne weitergelacht, aber die eiserne Stille, die ihr entgegenschlug, hielt sie davon ab.
Ungläubig lehnte sie sich vor.

„Demokratie?!"

Kopfschüttelnd spreizte sie ihre Finger auf der Tischplatte.

„Demokratie war Schuld daran, dass die Welt brannte. Demokratie hat den Menschen erst die Macht gegeben, sich gegenseitig zu vernichten. Demokratie ... ist mit Abstand die gefährlichste Erfindung der Menschheit. Und Ihr habt sie von den Toten auferweckt?", sie ließ ihren Blick durch die Runde schweifen, „Das ist Wahnsinn!"

Mitleid schwemmte das Gesicht des Sohns. Sie hätte ihm gerne die Augen ausgekratzt dafür.

„Ihr seid sehr intelligent, May Silencia. Aber eure politischen Ansichten wurden von einer Jahrhunderte alten Diktatur geprägt, dem einzigen Staatssystem, das ihr kennt. Ich versichere Euch, dass dieser Prozess gerecht ist. Aber wie bereits erwähnt, ist dafür Eure Kooperation von höchster Wichtigkeit."

Sie lachte noch einmal falsch auf.

„Das ist Euer Ernst."

Der Blonde ließ einige Momente in Stille verstreichen.

„Ich denke, wir sollten eine Pause machen."

Hades neigte zustimmend den Kopf, eine ungewöhnliche Geste des Respekts vor seinem eigenen Sohn.

May stand auf und ging, ohne sich noch einmal umzusehen.
Niemand wagte es, sie aufzuhalten, als sie sich vom tanzenden Feuerschein und den Farblosen entfernte.
Sie war nun absolut überzeugt davon, dass alle Menschen an diesem Ort vollkommen wahnsinnig waren.

Smokehands (Skythief pt. 2)Where stories live. Discover now