46 - Ewige Dämmerung

1K 135 7
                                    

„Hohe", jemand schüttelte sie, „Ihr müsst aufstehen."

May Silencia schlug die Augen auf. Der Albtraum, der sie seit Wochen quälte, verblasste und gab den Blick frei auf Orpheus Valeria. Sie wünschte sich den Albtraum zurück.
Stöhnend schlug sie die Hand des Mannes weg, der sie geweckt hatte, und stützte sich in die Höhe. Sie brauchte einen Moment, um die Welt gerade zu blinzeln und sich die wirren, weißen Haarsträhnen aus dem Blickfeld zu streichen. May zog mit einem Zischen die Decken fester um ihre Schultern.

„Verschwindet aus meinem Schlafzimmer", knurrte sie ihn an und zupfte ihr Nachthemd über die Knie herunter.
Wo sie herkam, hätte man einen jungen Mann für ein solches Verhalten zutiefst verurteilt. Es schickte sich nicht, einfach in das Zimmer einer schlafenden Frau zu platzen und sie aus dem Schlaf zu schütteln, außer das Haus brannte um sie herum.

„Ihr werdet erwartet. Zieht Euch etwas an."

„Bitte was?", gähnte sie, „Es ist mitten in der Nacht."

Orpheus Valeria hatte die Augen zusammengekniffen, als verwirre sie ihn gewaltig. Seit Julian tot war, hatte sie es aufgegeben, einem geregelten Schlafrhythmus zu folgen.

„In einer halben Stunde schlägt es Mittag", stellte er trocken fest.

„Was du nicht sagst", sie blinzelte in die ewige Dämmerung, „Sterne, wie ich diesen Ort hasse."

„Zieht Euch an. Mein Vater will Euch sehen."

Sie sah zutiefst genervt und immer noch verschlafen zu ihm auf.

„Wenn Euer Vater Euch schicken kann, um mich zu wecken, kann er auch gleich selbst hereinplatzen. Respekt scheint Euch allen nicht sonderlich wichtig."

„Ich diskutiere nicht mit Euch", knurrte er, hob irgendein Kleid vom Boden auf und warf es zu ihr auf das Bett, „Ihr habt fünf Minuten."

Er verließ den Raum und hätte sicher die Tür hinter sich zugeschlagen, wenn es eine solche gegeben hätte. Doch bis auf einen Vorhang trennte das Schlafzimmer nichts vom Hauptzimmer.
Schlecht gelaunt erhob sie sich und streckte mit einem lauten Knacken ihre Gelenke, bevor sie sich wie in Trance eines der Kleider überwarf, die man ihr zur Verfügung gestellt hatte.
Zwar war sie eingekerkert, wie eine gewöhnliche Verbrecherin, doch immerhin sorgte man dafür, dass jemand sich um ihre Wäsche kümmerte. Ihr Bett frisch beziehen, kehren und das Badezimmer sauber halten musste sie selbst. Noch nie hatte man solch stumpfe Arbeiten von ihr verlangt.
May war es gewohnt gewesen, dass sich ihre Dinge wie von Zauberhand ordneten, sich das Bett selbst zu machen schien und sie ihre Wäsche nicht nach Farbe und Temperatur des Waschwassers sortieren musste. Anfangs hatte sie sich deswegen mit Orpheus Valeria angelegt, doch letztendlich war ihr nichts anderes übriggeblieben, als ihren Stolz hinunter zu schlucken.

Seit man den Kronprinzen hingerichtet hatte, hatte sie ohnehin keine Kraft mehr für irgendetwas. Dass sie überhaupt wieder schlief und nicht Nächte lang wachlag, um in der Dunkelheit an die Decke zu starren und damit zu rechnen, dass man sie jede Sekunde im Schlaf erstechen wollte, war an sich ein Wunder.
Bis jetzt hatte man sie weder ermordet, noch gefoltert, obwohl sie ihre Tage in einer Stadt voller Farbloser verbrachte.

Wobei sie zugegebenermaßen nicht besonders viele von diesen zu Gesicht bekommen hatte, seit man versucht hatte, sie zu verhören. Zu anfangs hatte sie Angst gehabt vor Orpheus, einem farblosen Mann, der kommen, gehen und mit ihr reden konnte, wie es ihm gefiel, ohne irgendeine Art von Konsequenzen fürchten zu müssen. Doch nun nervte er sie mehr, als er sie einschüchterte.

Orpheus Bruder mit der Silbermünze, Theseus, war definitiv furchteinflößender. Der dunkelhaarige Valeria hatte sie mehrmals verhört, allerdings ohne Gewalt anzuwenden. Seit einigen Wochen hatten die Valeria seltsamerweise ein erhöhtes Interesse an der Mythologie der oberen Stadt entwickelt.

„Will Euer Vater mir etwa schon wieder Ordensgeheimnisse entlocken?", fragte sie heiser durch den Vorhang, während sie das weiße Kleid überstreifte, „Ich dachte, er wäre ein kluger Mensch."

„Ihr haltet Euch jedenfalls für einen", kam es spitz zurück.
Sie verdrehte wenig amüsiert die Augen über die durchaus ausbaufähige Schlagfertigkeit des Valeria, hob die viel zu grobe Haarbürste von ihrer Kommode und begann, sich zu kämmen. Ihr Haar war noch weiter gewachsen, während sie hier eingesperrt worden war.

„Ich bin ein kluger Mensch. Denkt Ihr nicht, es wäre wirtschaftlicher, wenn Ihr einfach mit mir reden würdet, anstatt mich zu beleidigen?"

Sie hätte sich gerne geschminkt, dachte sie, als sie sich im Spiegel sah.
Über Jahre hinweg waren Mays MakeUp, ihre falschen Nägel, ihr Schmuck und ihre feinen Kleider ihre Rüstung gewesen.
Augenringe und unreine Haut wären sofort als Zeichen der Schwäche und der fehlenden Disziplin gedeutet worden. Jetzt, mit unreinerer Haut als jemals zuvor, zog sie den Vorhang zurück und schlich in den etwas zu großen Kalbslederstiefeln, dem einzigen Paar Schuhe, das sie besaß, in den größten Raum der Wohnung, in der man sie seit Wochen gefangen hielt.

„Ich gehe nirgends hin, wenn Ihr mir nicht sagt, was mich erwartet", knurrte sie ihn im Vorbeigehen an.

Orpheus mochte sie nicht.
Er brachte ihr die bedingungslose Abneigung entgegen, mit der man einen dahergelaufenen Hund strafte. Die Sterne wussten, wieso man ihn zu ihrem Kerkermeister gemacht hatte. Wahrscheinlich, weil er mit seinem fehlenden Auge schlicht nicht mehr für viel geeignet war, dachte sie bitter.
Sein Blick folgte ihr durch den Raum, als wüsste er genau, wie unangenehm ihr seine Anwesenheit war und würde jede Sekunde davon auskosten.

„Ich kann Euch in Ketten legen, wenn Ihr das unbedingt wollt", stellte er in gelangweiltem Ton fest, „Ihr wurdet in diesem Haus mit größerer Freundlichkeit behandelt, als Ihr verdient habt. Beißt nicht die Hand, die Euch füttert, Hohe. Seid ein kluger Mensch."

Ihre Finger krallten sich plötzlich fest um die Kaffeetasse, die sie von der Anrichte gehoben hatte. Auch nach Wochen war sie die Erniedrigung noch nicht gewohnt. Im Gegenteil.
Mit jedem Satz, der Orpheus Valerias Lippen verließ, wuchs ihr Verlangen, den Caz Kristall aus ihrer Brust zu reißen und in einen schimmernden Dolch zu verwandeln, nur um ihn aufzuspießen. Dass sie dabei sterben würde, war ihr bewusst.

May war lange alleine gewesen, auch wenn der Valeria und eine Farblose, die ihr Essen brachte und ihre Wäsche mitnahm, in regelmäßigen Abständen den Raum betraten. Einsamkeit war nichts, das sie zuvor gekannt hatte. In den zwei Türmen war sie nie alleine gewesen. Kinder des Ordens wurden von allen Familien als ihre eigenen betrachtet und wuchsen umsorgt auf, auch wenn die hochrangigen Mitglieder, zu denen auch Mays Mutter zählte, mehr arbeiteten, als sich um ihre Familie zu sorgen.
Sie vermisste ihre Mutter, doch hatte sie diese schon jahrelang vermisst.
Sie vermisste ihre Mentorin, Rya Hora.
Und sie vermisste Ascob. Ihr großer Bruder hatte auf sie aufgepasst, hatte ihr zugehört und ihr Mut zugesprochen. Jetzt war er fort, sein Mörder auf freiem Fuß und sie war nicht nur alleine, sondern auch zur Unfähigkeit verdammt.
Der Tod des Kronprinzen hatte sie endgültig aufgeben lassen.

Immer noch wartete Orpheus mit vor der Brust verschränkten Armen, als sie sich umwandte, den Kopf in den Nacken legte und ihren Espresso in einem Zug austrank. Er hatte wohl gelernt, dass sie gar nicht mit ihm redete, wenn er ihr keinen starken Kaffee mitbrachte.
Sie stellte die Tasse ab.

„Es gibt etwas, das ihr wissen solltet, bevor wir gehen", lenkte Orpheus ein. May hielt in einer Mischung aus Neugier und Misstrauen inne.

Umstandslos, als würde er ihr erklären, dass es Fisch zum Mittagessen geben würde, sagte Orpheus Valeria:
„Der Kronprinz lebt."

Smokehands (Skythief pt. 2)Where stories live. Discover now